Kriegsfront in der Ukraine

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Christian Wehrschütz und ORF-Fehlerkultur

Kriegsreporter mit eigenen Fronten

Dreißig Sekunden Fehlerkultur in der "Zeit im Bild" vor Millionenpublikum: in einem Beitrag von Christian Wehrschütz über Korruptionsbekämpfung in der Ukraine waren Video-Sequenzen zu sehen, die russische Propaganda enthielten und nicht das zeigten, was im Text behauptet wurde. Faktenchecker haben das aufgedeckt, und der ORF hat es nach einer Überprüfung richtiggestellt. Ein wichtiger Schritt, der aber vielen – auch im eigenen Haus – zu wenig weit geht. Die Affäre holt den Kriegsberichterstatter Wehrschütz vor den Vorhang, und in den Applaus mischen sich viele Buh-Rufe.

Der finnische Blogger Pekka Kallioniemi postet auf Twitter immer wieder lange sogenannte Threads über russland-freundliche Akteure. Diesmal war Christian Wehrschütz an der Reihe, und der ORF-Korrespondent hat gleich drunter kommentiert: "Sie verbreiten auf Twitter völlige Unwahrheiten, die ich entschieden ablehne!!! Ich habe meinen Anwalt informiert; er wird prüfen, ob eine Klage möglich ist!" Russland-freundlich - diesem Vorwurf begegnet Wehrschütz gern mit Klagsdrohungen. Gegen einen Schriftsteller, der ihn als "Marionette Putins" bezeichnet hat, ist er vor Gericht gegangen und hat gewonnen. Sich gegen falsche und überzogene Anschuldigungen zu wehren, ist sein gutes Recht. Von seinen Kritikern wird Wehrschütz das als Einschüchterungsstrategie ausgelegt.

Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz

Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz

ORF

Viel auch überzogene Kritik und Anwaltsbriefe

So hat auch Anna Pattermann einen Anwaltsbrief bekommen - die ukrainische Studentin lebt seit 2013 in Wien und engagiert sich im Verein Unlimited Democracy, der Bewusstseinsbildung für die Ukraine in Österreich betreibt. Ein hartes Pflaster, wie Pattermann oft erlebt hat: "Hey, Anna, ganz ehrlich, ich verstehe nicht, warum kapituliert ihr nicht?" – das habe sie ihre Nachbarin in Wien ein halbes Jahr nach Beginn der russischen Invasion gefragt, darauf sei sie nicht vorbereitet gewesen.

Immer wieder ist Anna Pattermann mit Versatzstücken russischer Propaganda konfrontiert. Das sei oft zum Verzweifeln, sagt die Ukrainerin. Nach einer Veranstaltung, bei der auch Christian Wehrschütz aufgetreten ist, hatte Pattermann auf Twitter eine Aussage kritisiert, die auf dem Podium gefallen war und die sie irrtümlich Wehrschütz zugeordnet hatte. Sie musste das falsche Posting zu Recht löschen und sich entschuldigen. Das wirkt nach. Anna Pattermann hat den falschen ZIB-Beitrag natürlich gesehen, aber sie traut sich heute nicht mehr, Wehrschütz öffentlich zu kritisieren.

Christian Wehrschütz in Charkiw in der Nähe der Frontlinie

Christian Wehrschütz in Charkiw in der Nähe der Frontlinie

ORF

Mächtige Freunde wie die "Kronen Zeitung"

Der ORF-Korrespondent hat nicht nur einen scharfen Anwalt, sondern auch mächtige Freunde wie die "Kronen Zeitung". Am Sonntag nach der Ausstrahlung des ZIB-Beitrags, für den er irrtümlich russisches Propaganda-Material verwendet hat, durfte Wehrschütz in einem Brief an die 2,3-Millionen-Leserschaft der Sonntags-"Krone" seine Sicht der Dinge erklären. Die falschen Videos habe er aus seriöser österreichischer Quelle erhalten, das sei sein erster derartiger Fehler in 23 Jahren, und außerdem: "Das Gesagte ändert nichts daran, dass die Berichterstattung in der ZIB an sich korrekt war und ist", so Wehrschütz in dem Boulevardblatt.

Der Versuch, den Fehler zu relativieren

Eine Behauptung, die der Medienwissenschafter Jakob-Moritz Eberl von der Uni Wien nicht nachvollziehen kann. Wehrschütz sei schlicht russischer Desinformation aufgesessen, und die funktioniere deshalb so gut, "weil sie eben nicht etwas komplett neu erfindet und das dann möglicherweise gestellt oder nachgespielt wird, sondern weil echte Videos oftmals aus dem Kontext genommen, also de-kontextualisiert werden mit anderen Erklärungen. Und das ist in dem Fall einfach passiert."

Mit solchen und anderen Details halten sich die Wehrschütz-Verteidiger nicht auf. Am Sonntag darauf folgte ein doppelseitiges Interview in der "Krone" mit der Wehrschütz-Botschaft: "Ich lasse mich nicht abbringen." Im "Kurier" erschien ein Kommentar, der den unbestrittenen Mut und Einsatz von Wehrschütz würdigte, Titel: "Hut ab vor Christian Wehrschütz!" - der Text wurde von mehreren Regierungssprechern geteilt.

Vorwurf einer falschen Ausgewogenheit

Viele Korrespondentinnen und Medienexperten sehen das anders. Niemand spricht explizit von Russland-Freundlichkeit, der Vorwurf lautet False Balance - also falsche Ausgewogenheit. Jakob-Moritz Eberl: "In Wirklichkeit ist das so eine Art missverstandene Objektivität, weil Objektivität kann nicht heißen, dass ich auf der anderen Seite einfach die Information bzw. Desinformation aufgreife und dass das dann okay wäre." Ähnlich Jutta Sommerbauer, die für die Tageszeitung "Die Presse" aus der Ukraine berichtet. Sie sagt: "Diese Gleichsetzung der Kriegsparteien und diese Darstellung des Krieges gegen die Ukraine eigentlich als Stellvertreterkonflikt, als Konflikt von zwei Supermächten. Ich glaube, dass das eigentlich das Problematischere ist bei der Berichterstattung." Denn das sorge beim österreichischen Publikum für "eine gewisse Verzerrung, was die Einschätzung dieses Krieges gegen die Ukraine angeht".

Zeitungs-Interviews nach dem ZIB-Eklat

Wehrschütz selbst hat das in seinen Interviews nach dem ZIB-Eklat selbst wieder befeuert, in der "Kronen Zeitung" setzte er westliche Propaganda mit der russischen gleich, die dürfe man nicht übersehen, so Wehrschütz. Zitat aus dem Interview: "Etwa die sogenannten Berichte des britischen Geheimdienstes. Was der schon alles behauptet hat!" Und in der "Tiroler Tageszeitung" sagte Wehrschütz über die Rolle der Ukraine beim von den Russen kontrollierten ukrainischen AKW Saporischschja: "Es ist völlig klar, dass die Ukrainer bestrebt sind, die Gefahr zu erhöhen." Einen Beleg blieb er hier wie dort schuldig.

Der Kommmunikationswissenschafter Jakob-Moritz Eberl sieht ein Ablenkungsmanöver: "Das Überraschendste an dem Fall ist, dass eigentlich nicht versucht wird zu erklären, wie schau ich, dass das in Zukunft nicht wieder passiert, sondern man weicht eigentlich aus. Es ist eine Art Strohmann-Argument, wo es darum geht: Ich will gar nicht darauf eingehen, wie mir der Fehler passiert ist und wie ich den in Zukunft vermeiden kann, sondern ich gehe in den Angriff über."

Wehrschütz und sein enormes Standing

Christian Wehrschütz kann so agieren, weil er ein enormes Standing bei der ORF-Führung hat, das auf seiner Prominenz durch den langjährigen Einsatz als Reporter sowie auf seiner guten Vernetzung ins Bundesheer, mit dem Boulevard und ins rechte Lager basiert. Wehrschütz hat FPÖ-Hintergrund und kann auch als Signal an eine Gruppe gesehen werden, bei der der ORF Akzeptanzprobleme hat. Faktum ist, dass Wehrschütz den Balkan und die Ukraine als sein alleiniges Revier abgesteckt hat, das ihm niemand streitig machen darf.

"One-Man-Show in Ukraine und am Balkan"

In der katholischen Wochenzeitung "Die Furche" schreibt dazu Kommentator Otto Friedrich: "Die aktuelle Ukraine-Berichterstattung des ORF fußt praktisch ausschließlich auf einer Person. Und Christian Wehrschütz ist gleichzeitig Korrespondent für den Balkan." Diese One-Man-Show drücke die Informationsqualität, so die Botschaft. Hartmut Fiedler, Leiter des Außenpolitik-Ressorts der ORF-Radios, hält dem Vorwurf der One-Man-Show entgegen: "Wir haben alle möglichen Quellen anzuzapfen versucht: Journalisten, Vertreter von NGOs, Regierungen, auch der ukrainischen Think Tanks. Wir haben versucht, ein möglichst großes Mosaik zustande zu bringen. Ich glaube, es ist uns manchmal auch ganz gut gelungen. Aber ja, das, was man in diesen mehr als eineinhalb Jahren vor allem gehört hat, war Christian Wehrschütz."

Einzelkämpfer hat keine Zeit für eine Auszeit

Deshalb kann Fiedler die Kritik schon verstehen. "Wir haben uns immer gefragt: Wann schläft er eigentlich? Wann verliert er eigentlich den Verstand? Ich weiß nicht, wie oft ich ihn gefragt habe. Christian, willst du nicht eine Auszeit? Brauchst du nicht eine Pause? Er hat immer weitergemacht." Wehrschütz habe eine gute Kondition und viel Erfahrung, aber eben auch ein großes Ego: "Er ist immer ein bisschen ein Einzelkämpfer gewesen. Jemand, der von sich angenommen hat, es gibt eigentlich niemanden, der es besser kann", sagt Fiedler.

Schwierige Doppelrolle, aber ORF hält daran fest

Die Doppelrolle als Kriegsberichterstatter und Balkan-Korrespondent habe sich jedenfalls nicht bewährt, so der Radio-Außenpolitik-Chef. "Das alles unter einen Hut zu bringen, ist eigentlich kaum vorstellbar. Und es hat auch nicht wirklich funktioniert." Wehrschütz habe viele Verdienste, sagt Fiedler – und er fügt hinzu: "Aber ja, wir hätten ihn vermutlich da oder dort einbremsen müssen, respektive ihm Unterstützung zur Seite stellen müssen. Auch wenn er sich tendenziell immer dagegen gewehrt hat."

Wir von #doublecheck haben die ORF-Chefetage mit dieser Problematik konfrontiert und gefragt, ob man Christian Wehrschütz in seiner schwierigen Arbeit als Kriegsberichterstatter vielleicht personell entlasten sollte. Die Antwort darauf, Zitat: "Der ORF hält an seiner Ukraine-Berichterstattung fest, in der Christian Wehrschütz als einer der profundesten Kenner der Lage eine wichtige Rolle einnimmt."

Bekenntnis zum Ausbau der Fehlerkultur

In dem Statement wird auch noch einmal auf die Richtigstellung in der ZIB hingewiesen. Zitat: "Wenn Fehler gemacht werden, müssen sie als solche benannt und korrigiert werden." Der Vorsitzende des Redaktionsrats Dieter Bornemann verweist auf neue interne Guidelines, die den Umgang mit Internet-Videos thematisieren. "Dabei geht es auch um die Überprüfung von Fotos und Videos, die über die sozialen Medien daherkommen. Das wird nämlich immer schwieriger. Die britische BBC zum Beispiel hat dafür ein eigenes Team mit 60 Journalistinnen und Journalisten eingesetzt."

Der Privatsender Puls24 arbeitet mit externen Faktencheckern vom Verein Mimikama zusammen, dessen Sprecher Andre Wolf erläutert, wie das abläuft: "Wir bekommen Anfragen, wir sind dann recht zügig. Das wird dann ausrecherchiert, und wir geben dann halt entweder das Go - ja, das ist okay und kann verwendet werden - oder wir sagen eben: Lasst die Finger davon."

"Da ist im ORF sicher noch Luft nach oben"

Redaktionsvertreter Dieter Bornemann plädiert insgesamt für eine beherztere Fehlerkultur im ORF: "Möglichst offensiv und transparent. Denn es stärkt ja die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung, wenn ein Fehler rasch eingestanden und auch berichtigt wird. Und da ist sicher noch Luft nach oben." Die Internet-Expertin Ingrid Brodnig stimmt hier zu: "Ich finde es gut, wenn jetzt #doublecheck das noch einmal aufrollt, aber ehrlich gesagt, da ginge schon noch ein bisschen mehr. So wichtig und so groß wie der ORF ist." Für den Medienwissenschafter Jakob-Moritz Eberl ist in Sachen Fehlerkultur entscheidend, "wie man glaubwürdig kommuniziert, dass man alles tut, vor allem auch eigene Routinen verändert, Kontrollmechanismen einführt - damit ein Fehler nicht wieder passieren kann“. Und dazu habe man bisher nichts gehört.

ZIB-Chefredakteurin verspricht Verbesserungen

ORF-TV-Chefredakteurin Eva Karabeg verspricht, dass sich das ändern wird. Man werde die Zusammenarbeit mit der EBU, der Europäischen Rundfunk-Union, verstärken und deren gute Ressourcen für Fact-Checking besser nutzen. Ab sofort soll es auch verstärkt Workshops für den Umgang mit Fremdmaterial geben. Karabeg will, dass das auch auf Sendung Thema wird: "Es ist geplant, das in der ZIB zu machen, aber auch in Informationssendungen wie 'Aktuell nach eins' in einem ersten Schritt." Da sollen Korrespondenten mit eingebunden werden, aber nicht ausschließlich. "Denn der Umgang mit Fremdmaterial ist ja etwas, das uns natürlich alle betrifft." Der ZIB-Chefredakteurin ist es wichtig, dem Publikum ganz klar zu sagen, dass der ORF diese Sache "sehr, sehr ernst nimmt". Denn das sei eine Frage der Glaubwürdigkeit.

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