Fotos verstorbener Gefangener des KZ Auschwitz

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Gedanken für den Tag | 27 01 2025 - 01 02 2025

Anna Goldenberg, Journalistin und Autorin

Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.

Was hat der Holocaust noch mit uns zu tun?

"Anna ist ein netter Zwerg und gedeiht prächtig." Diesen Satz hat meine Großmutter im Sommer 1989 in ein liniertes Notizbuch geschrieben. Der Zwerg bin ich, zu diesem Zeitpunkt ein paar Wochen alt. Über 35 Jahre später, im Dezember 2024, halte ich dieses Buch zum ersten Mal in der Hand. Meine Großmutter ist am 19. Oktober gestorben. Nun räume ich gemeinsam mit meiner Mutter ihre Wohnung aus.

Helga Feldner-Busztin wurde 95 Jahre alt. Sie ist in Wien aufgewachsen, mit 14 Jahren wurde sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dass sie überlebt hat, war pures Glück. Nach dem Krieg wurde sie Ärztin. Sie bekam vier Kinder und irgendwann waren in dem großen Haus, in dem sie bis zum Schluss wohnte, auch elf Enkelkinder. Über ihre Erlebnisse habe ich ein Buch geschrieben, das 2018 erschienen ist.

Mit mir hat sie dafür viele Gespräche geführt. Ich gehöre zur sogenannten dritten Generation. Uns eint, dass unsere Großeltern Holocaust-Überlebende sind und wir uns mit einiger Verspätung dem Thema widmen. Die Distanz hat das darüber sprechen sicher leichter gemacht. Aber 80 Jahre nach Kriegsende lebt fast niemand mehr, der unsere Fragen aus erster Hand beantworten kann.

Und jetzt ist auch meine Großmutter verstummt. Doch während ich in ihren Notizbüchern blättere, alte Rechnungen entsorge und ihr Gewand sortiere, scheint es mir, als würde sie mir noch ein letztes Mal etwas erzählen. Vielleicht sagt sie mir ja, was ich mit dieser Verantwortung tun soll, wie es weitergeht mit der Erinnerung, ganz ohne sie.

Postkarten, Geburtsurkunde und der Holocaust

In der Wohnung meiner Großmutter ist viel Platz und den hat sie ausgenutzt. In jeder Lade, in jedem Kästchen finden wir Dinge, die sie nicht weggeworfen hat. Alte Zugfahrkarten und Kongressprogramme hat sie ebenso aufgehoben wie unzählige Todesanzeigen.

Es ist nicht das Durcheinander, das mich wundert. Meine Großmutter hat zu der Generation gehört, für die der Speicherplatz eines Computers nicht selbstverständlich war, die erst spät gelernt hat, etwas im Internet nachzuschauen. Was sie nicht vergessen wollte, musste sie aufheben. Dabei nachzusortieren und auszumisten - wer schafft das schon? Auch mein E-Mail-Posteingang quillt immer über.

Es ist das Nebeneinander, das ich nun neu entdecke. Das Nebeneinander von alltäglichen Dingen und Dokumenten, die von Verzweiflung, Verfolgung und Vernichtung zeugen. Inmitten all der Rechnungen, Telegramme und Grußkarten finde ich nämlich auch jene Briefe, die von den Versuchen meiner Urgroßmutter bezeugen, mit ihrer Familie 1938 aus Österreich zu fliehen. Ohne Erfolg.

Ich halte die Postkarten in der Hand, die mein Urgroßvater seiner Tochter Helga nach Theresienstadt geschrieben hat. Er war zu dieser Zeit in Italien interniert und wurde dann nach Auschwitz deportiert.

Im Leben meiner Großmutter hat es keinen sogenannten Schlussstrich gegeben. Der Holocaust war immer dabei. Jetzt sehe ich ihn in den Geldscheinen in fremden Währungen, die zwischen den Dokumenten liegen. Die Flucht war eine Option, die ein Leben lang präsent geblieben ist. Der Holocaust ist in den Geburtsanzeigen von Helgas vier Kindern, die Namen der ermordeten Verwandten tragen. Und er ist wohl auch in ihrem Bedürfnis, alles aufzuheben und zu dokumentieren, weil sie so viele Menschen gekannt hat, die nicht überlebt haben, um das zu tun.

Helgas Poesiealbum

Der Einband ist aus hellbraunem Leinen, darauf ist ein rosa Blumenstrauß gemalt. Ich habe Helgas Poesiealbum in ihrem Wohnzimmerkasten gefunden. Das Buch hat sie 1938 zu Weihnachten bekommen. Die meisten Einträge sind von Helgas Freundinnen, der letzte von 1942.

Ich sehe mir die Seiten genauer an. Und entdecke, dass meine Großmutter mit Bleistift zarte Notizen unter die Namen gemacht hat. England, New York, Santiago de Chile steht da. Einige Fragezeichen. Und dann sehr oft nur ein Buchstabe: P.

Bei Gerti Goldmann zum Beispiel. "Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken. Eisen und Metall zerbricht, aber unsre Freundschaft nicht", hat das Mädchen geschrieben und sogar eine Tulpe und eine Rose gezeichnet. Die Datenbank von Yad Vashem zeigt mir ihren Namen an: Ermordet in der Shoah. P. - das steht für Polen.

Helga hat nicht nur für sich selbst überlebt. Mit ihr existierten auch all jene weiter, die sie gekannt hat und über die sie immer viel gesprochen hat. Was ist jetzt, wo Helga tot ist?

Physische Erinnerungsstücke werden als Brücke zur Vergangenheit umso wichtiger. So ein Poesiealbum hatte ich früher auch. Es vor mir zu sehen, ja, anzufassen, macht es zu einer intensiven Erfahrung.

Geschichte muss man verstehen, aber auch spüren. Und dabei hilft diese Verbindung, die sich anfühlt, als würden die Mädchen nun auch mit mir sprechen. Zum Beispiel Anita Ornstein. Am 25. Februar 1941 ist sie zwölf Jahre alt und schreibt Folgendes: "Das Glück ist wie ein Omnibus, auf den man lange warten muss. Und kommt er dann zu guter Letzt, so ruft der Schaffner: Schon besetzt." Zehn Monate später wurde sie nach Minsk deportiert und kehrte nie zurück.

Gestaltung: Alexandra Mantler

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