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Gedanken für den Tag | 27 01 2025 - 01 02 2025
Anna Goldenberg, Journalistin und Autorin
Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.
3. September 2025, 12:47
Was hat der Holocaust noch mit uns zu tun?
"Anna ist ein netter Zwerg und gedeiht prächtig." Diesen Satz hat meine Großmutter im Sommer 1989 in ein liniertes Notizbuch geschrieben. Der Zwerg bin ich, zu diesem Zeitpunkt ein paar Wochen alt. Über 35 Jahre später, im Dezember 2024, halte ich dieses Buch zum ersten Mal in der Hand. Meine Großmutter ist am 19. Oktober gestorben. Nun räume ich gemeinsam mit meiner Mutter ihre Wohnung aus.
Helga Feldner-Busztin wurde 95 Jahre alt. Sie ist in Wien aufgewachsen, mit 14 Jahren wurde sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dass sie überlebt hat, war pures Glück. Nach dem Krieg wurde sie Ärztin. Sie bekam vier Kinder und irgendwann waren in dem großen Haus, in dem sie bis zum Schluss wohnte, auch elf Enkelkinder. Über ihre Erlebnisse habe ich ein Buch geschrieben, das 2018 erschienen ist.
Mit mir hat sie dafür viele Gespräche geführt. Ich gehöre zur sogenannten dritten Generation. Uns eint, dass unsere Großeltern Holocaust-Überlebende sind und wir uns mit einiger Verspätung dem Thema widmen. Die Distanz hat das darüber sprechen sicher leichter gemacht. Aber 80 Jahre nach Kriegsende lebt fast niemand mehr, der unsere Fragen aus erster Hand beantworten kann.
Und jetzt ist auch meine Großmutter verstummt. Doch während ich in ihren Notizbüchern blättere, alte Rechnungen entsorge und ihr Gewand sortiere, scheint es mir, als würde sie mir noch ein letztes Mal etwas erzählen. Vielleicht sagt sie mir ja, was ich mit dieser Verantwortung tun soll, wie es weitergeht mit der Erinnerung, ganz ohne sie.
Postkarten, Geburtsurkunde und der Holocaust
In der Wohnung meiner Großmutter ist viel Platz und den hat sie ausgenutzt. In jeder Lade, in jedem Kästchen finden wir Dinge, die sie nicht weggeworfen hat. Alte Zugfahrkarten und Kongressprogramme hat sie ebenso aufgehoben wie unzählige Todesanzeigen.
Es ist nicht das Durcheinander, das mich wundert. Meine Großmutter hat zu der Generation gehört, für die der Speicherplatz eines Computers nicht selbstverständlich war, die erst spät gelernt hat, etwas im Internet nachzuschauen. Was sie nicht vergessen wollte, musste sie aufheben. Dabei nachzusortieren und auszumisten - wer schafft das schon? Auch mein E-Mail-Posteingang quillt immer über.
Es ist das Nebeneinander, das ich nun neu entdecke. Das Nebeneinander von alltäglichen Dingen und Dokumenten, die von Verzweiflung, Verfolgung und Vernichtung zeugen. Inmitten all der Rechnungen, Telegramme und Grußkarten finde ich nämlich auch jene Briefe, die von den Versuchen meiner Urgroßmutter bezeugen, mit ihrer Familie 1938 aus Österreich zu fliehen. Ohne Erfolg.
Ich halte die Postkarten in der Hand, die mein Urgroßvater seiner Tochter Helga nach Theresienstadt geschrieben hat. Er war zu dieser Zeit in Italien interniert und wurde dann nach Auschwitz deportiert.
Im Leben meiner Großmutter hat es keinen sogenannten Schlussstrich gegeben. Der Holocaust war immer dabei. Jetzt sehe ich ihn in den Geldscheinen in fremden Währungen, die zwischen den Dokumenten liegen. Die Flucht war eine Option, die ein Leben lang präsent geblieben ist. Der Holocaust ist in den Geburtsanzeigen von Helgas vier Kindern, die Namen der ermordeten Verwandten tragen. Und er ist wohl auch in ihrem Bedürfnis, alles aufzuheben und zu dokumentieren, weil sie so viele Menschen gekannt hat, die nicht überlebt haben, um das zu tun.
Helgas Poesiealbum
Der Einband ist aus hellbraunem Leinen, darauf ist ein rosa Blumenstrauß gemalt. Ich habe Helgas Poesiealbum in ihrem Wohnzimmerkasten gefunden. Das Buch hat sie 1938 zu Weihnachten bekommen. Die meisten Einträge sind von Helgas Freundinnen, der letzte von 1942.
Ich sehe mir die Seiten genauer an. Und entdecke, dass meine Großmutter mit Bleistift zarte Notizen unter die Namen gemacht hat. England, New York, Santiago de Chile steht da. Einige Fragezeichen. Und dann sehr oft nur ein Buchstabe: P.
Bei Gerti Goldmann zum Beispiel. "Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken. Eisen und Metall zerbricht, aber unsre Freundschaft nicht", hat das Mädchen geschrieben und sogar eine Tulpe und eine Rose gezeichnet. Die Datenbank von Yad Vashem zeigt mir ihren Namen an: Ermordet in der Shoah. P. - das steht für Polen.
Helga hat nicht nur für sich selbst überlebt. Mit ihr existierten auch all jene weiter, die sie gekannt hat und über die sie immer viel gesprochen hat. Was ist jetzt, wo Helga tot ist?
Physische Erinnerungsstücke werden als Brücke zur Vergangenheit umso wichtiger. So ein Poesiealbum hatte ich früher auch. Es vor mir zu sehen, ja, anzufassen, macht es zu einer intensiven Erfahrung.
Geschichte muss man verstehen, aber auch spüren. Und dabei hilft diese Verbindung, die sich anfühlt, als würden die Mädchen nun auch mit mir sprechen. Zum Beispiel Anita Ornstein. Am 25. Februar 1941 ist sie zwölf Jahre alt und schreibt Folgendes: "Das Glück ist wie ein Omnibus, auf den man lange warten muss. Und kommt er dann zu guter Letzt, so ruft der Schaffner: Schon besetzt." Zehn Monate später wurde sie nach Minsk deportiert und kehrte nie zurück.
Cousin Albert
Helga und der kleine Bub sehen einander ähnlich. Beide haben Locken, nur Helgas Gesicht ist etwas runder. Auf dem Foto ist der Bub etwa vier und Helga vielleicht sieben Jahre alt. Er strahlt das ältere Mädchen an. Helga, seine große Cousine.
Albert Goldstein lebte damals mit seinen Eltern in Brünn; dort war Helgas Vater aufgewachsen. Helga, meine Großmutter, hat immer gerne erzählt, was für ein "herziges Buberl" ihr Cousin gewesen sei. Klug und lieb und gut gelaunt. Über ihn kam ihr nie ein schlechtes Wort über die Lippen. Das war untypisch, denn Helga ist sonst schonungslos ehrlich gewesen.
Aber Cousin Albert, der war wohl anders. Vielleicht, weil er nur neun Jahre alt wurde. Gemeinsam mit seinen Eltern ist er in einem jüdischen Ghetto im von deutschen Truppen besetzten, polnischen Gebiet gestorben.
Das Schwarz-Weiß-Foto habe ich aus einem der vielen Schuhkartons gefischt, die Helga mit "Familienfotos" beschriftet hat. Ich frage mich, was für ein Mensch wohl aus Albert geworden wäre. Was hätte das Überleben mit ihm gemacht? Wäre er zu einem leidenschaftlichen Zeitzeugen geworden, so wie meine Großmutter?
In den letzten 25 Jahren ihres Lebens ist Helga viel an Schulen gegangen und hat gerne Interviews gegeben. Sie war beliebt, weil sie gut erzählen konnte und stets zu Toleranz und Respekt aufgerufen hat. Vielleicht wäre Cousin Albert mit ihr gemeinsam unterwegs gewesen.
Vielleicht aber hätte er das Schicksal der meisten anderen Holocaust-Überlebenden geteilt. Viele waren traumatisiert und krank, außerdem wollte ihnen jahrzehntelang ohnehin kaum jemand zuhören.
Die wenigsten Überlebenden hatten ein so erfülltes Leben wie meine Großmutter. Aber zumindest hatten sie eines. Anders als der kleine Albert.
Hinweis: Die in der Sendung getroffene Formulierung polnisches Ghetto' ist falsch und irreführend. Korrekt muss es heißen: jüdisches Ghetto im von deutschen Truppen besetzten, polnischen Gebiet'.
Zug nach Auschwitz
In Auschwitz, dessen Befreiung sich am 27. Jänner zum 80. Mal jährte, war meine Großmutter nie. Das hat sie ihrem gesunden Schlaf zu verdanken. 1944 stand sie nämlich auf einer Transportliste, um von Theresienstadt in das Vernichtungslager deportiert zu werden. Sie wusste nicht, wo es hinging, vielleicht in ein Arbeitslager, mit mehr zu essen.
Am Abfahrtstag hat es lange gedauert, bis alle Menschen in den Zug eingestiegen sind. Helga hatte eine hohe Transportnummer und ist beim Warten müde geworden. Also hat sie sich auf eine leere Pritsche in der Baracke gelegt. Als sie aufwachte, war der Zug weg.
Soweit ich weiß, hat Helga Auschwitz auch später nie besucht. Aber sie ist nach Theresienstadt zurückgekehrt, einmal mit mir gemeinsam. 2013 war das. Ich habe damals eine Reportage über den Besuch geschrieben. Das Magazin, in dem sie erschienen ist, hat Helga aufgehoben. Ich finde es nun in einer Schublade.
Ihren Enthusiasmus werde ich nie vergessen. Es war ihr wichtig, mir diese Orte ihrer Jugend zu zeigen. Vor jedem Haus hat sie angestrengt nachgedacht, was damals dort war.
Ohne Zeitzeugen wie Helga werden solche Gedenkorte immer wichtiger. Ich hatte vor unserer Reise schon viel über Theresienstadt gelesen. "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt", hieß es in der Nazi-Propaganda. Aber erst, als ich durch die ehemalige Garnisonsstadt gegangen bin, habe ich verstanden, wie perfide das Konzept war.
Es sieht wirklich aus wie eine Stadt. Die Baracken sind wuchtig, die Stadtmauern ebenso. Und umgeben ist es von den Feldern, auf denen meine Großmutter schuften musste. Dort ist sie im Mai 1945 den sowjetischen Soldaten um den Hals gefallen, die sie nach zweieinhalb Jahren Gefangenschaft befreit haben.
Spuren des Holocaust
Die Geschichte meiner Großmutter ist auch eine Geschichte des Essens. Wenn sie über die Zeit im Konzentrationslager gesprochen hat, ging es immer um den Hunger. Sie hat ständig ans Essen gedacht, immer geschaut, ob irgendwo etwas heruntergefallen oder übriggeblieben ist. Am Feld hat sie heimlich rohe Zwiebeln und Kartoffeln gegessen. Ein bisschen etwas hat sie in ihrer Unterwäsche versteckt und ins Lager geschmuggelt, für ihre Mutter und ihre Schwester.
Das hat Spuren hinterlassen. Nach der Befreiung, da war sie 16, hat Helga schnell an Gewicht zugelegt. Dann hat sie sich nicht mehr gefallen. Also hat sie begonnen, auf ihre Figur zu achten. Das ist ihr ein Leben lang geblieben.
Ich finde alte Kalender, in denen sie jeden Tag ihr Gewicht notiert hat. Es schwankt über Jahre nur um ein paar hundert Gramm. Sie war wirklich sehr diszipliniert.
Zugleich ist ihr der Respekt vor dem Hunger immer geblieben. In der Küche finden wir hunderte Gläser voll Marmelade. Selber war Helga keine große Köchin. Die Gläser hat sie geschenkt bekommen - und immer aufgehoben. Man weiß ja nie.
Nach mehreren Wochen des Räumens wirkt die Wohnung meiner Großmutter noch immer so voll wie zu ihren Lebzeiten. Aber wir haben für uns Ordnung geschaffen, in ihren Kästen, Dokumenten und irgendwie auch in den Erinnerungen.
Fremde Münzen, alte Briefe, selbstgemachte Marmelade aus dem Jahr 2002. Die Spuren des größten Zivilisationsbruchs in der Geschichte der Menschheit sind banal. Es ist so leicht, sie zu übersehen, sie nicht zu verstehen. Zugleich sind die vielen kleinen Schritte, die dazu führen, dass Menschen zu Tätern werden, oft kaum sichtbar. Da genau hinzuschauen, das ist jetzt meine Verantwortung. Versprochen, Helga.
Gestaltung: Alexandra Mantler