Gedanken für den Tag
Von Konstanze Fliedl. "Dichte Diagnosen" - Zum 150. Geburtstag Arthur Schnitzlers. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer
16. Mai 2012, 06:56
Seine Befunde zur Gesellschaft der späten Habsburgermonarchie und der Ersten Republik hat Arthur Schnitzler in einer sehr speziellen Handschrift festgehalten. Hellhörig hat er die Rhetorik von Liebe und Politik aufgezeichnet, die Vermarktung von Körper und Psyche dargestellt. Gegenüber den Lügen im Öffentlichen und im Privaten blieb er bei der Überzeugung von der Verantwortung für das Wort. Darin besteht die Aktualität von Schnitzlers Werk bis heute.
Schnitzlers Dinge
In Arthur Schnitzlers Stücken spielen nicht nur die Personen, sondern auch die Dinge vielsagende Rollen. Das Bühnenrequisit wird bedeutungsvoll. Das gilt beispielsweise im Einakterzyklus "Reigen" für den berühmten "Schuhknöpfler", den die bürgerliche Ehefrau für den Anlassfall des Seitensprungs mit sich führt. Der Stiefelöffner wird zum Zeichen erotischer Bereitschaft und gleichzeitig zur gegenständlichen Widerlegung verlogener Tugendrhetorik. Ähnlich funktioniert das Tennisracket im "Weiten Land": Es bezeichnet eine mörderisch-männliche Konkurrenz, die sich als sportlicher Wettkampf tarnt. Schnitzlers Dinge sind also Codierungen gesellschaftlicher Realität. Aber die Hauptrolle unter Schnitzlers Requisiten spielen interessanterweise Schriftstücke: Briefe, Zeitungen, Bücher. Die Schrift ist auf dem Theater eigentlich ein Fremdkörper, der Gegensatz zu dem auf der Bühne gesprochenen und von den Zuschauern gehörten Wort. Wenn Schnitzler Geschriebenes oder Gedrucktes ins Spiel bringt, hat es doppelte Bedeutung: Anatols Liebesbrief-Sammlung, Korsakows Abschiedsbrief im "Weiten Land" sind materielle Zeugnisse gelebter oder ungelebter Vergangenheit. Die in "Professor Bernhardi" vorgelesene Zeitung ist ein Dokument öffentlicher Rede und ein Beweisstück für politischen Populismus. Im Einakter "Literatur" schließlich ist das Buch das Dingsymbol für die Vermarktung des Privaten. Schnitzlers Dinge machen handgreiflich, wovon die Stücke sprechen: von der Korruption der Rede, vom Verrat im Intimen und im Sozialen. Sie bilden im Sinn des Wortes Verdinglichung ab. Aber die Schriftstücke auf der Bühne führen nicht nur vor, was mit Worten angerichtet werden kann; sie spiegeln auch die Schriftform des Dramas zurück. Als Text im Text sind sie beides zugleich: Corpus delicti und kritischer Urteilsspruch.
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Playlist
Titel: GFT 120516 Gedanken für den Tag / Konstanze Fliedl
Länge: 03:49 min