Die Literaturnobelpreisträgerin im Gespräch
In ihrem Roman "Atemschaukel" erzählt Herta Müller vom Schicksal der sogenannten "Volksdeutschen", die 1945 von der Roten Armee in sowjetische Arbeitslager deportiert wurden. Dafür hat sie 2009 den Nobelpreis für Literatur erhalten.
8. April 2017, 21:58
Im Jänner 1945 wurden alle damals sogenannten "Volksdeutschen" aus Rumänien von der Roten Armee in sowjetische Arbeitslager deportiert. "Alle" hieß: Frauen und Männer im Alter zwischen 17 und 45 Jahren. Sie wurden verantwortlich gemacht für die durch das Nazi-Regime begangenen Gräuel und Zerstörungen.
In einem atemberaubenden, höchst poetischen Roman hat die aus Rumänien stammende Schriftstellerin Herta Müller dieses fast unbekannte und über Jahrzehnte verdrängte Kapitel europäischer Geschichte in Worte gefasst.
Trauer über das nicht Wiedergutzumachende
In Gesprächen mit dem 2006 verstorbenen Schriftsteller Oskar Pastior und anderen Überlebenden der Arbeitslager hat sie den Stoff für ihr Buch "Atemschaukel" gesammelt. Ein Buch, das - wie die aus Wien stammende Literaturwissenschafterin Ruth Klüger, die selbst als jüdisches Kind nach Theresienstadt und Auschwitz verschleppt worden war, schreibt - "das noch einmal zum Nachdenken und Erstaunen zwingt über das von Menschen anderen Menschen zugefügte Elend, das in seiner Willkür niemandem etwas bringt und wofür es keine rechte Erklärung gibt. Nur Einsichten, wie es war, und die Trauer über das nicht Wiedergutzumachende."
Kollektives Trauma
"Ein Ausgangspunkt für die Geschichte war meine Mutter", erzählt Herta Müller, "weil meine Mutter nämlich auch deportiert worden ist. Und weil diese Geschichte mich meine Kindheit hindurch begleitet hat. In unserem kleinen Dorf sind alle Frauen in ihrem Alter deportiert worden. Und auch die Männer, die zu jung oder zu alt für den Krieg waren. Das war eine kollektive Erfahrung im Dorf. Und natürlich hat man darüber gesprochen, auch wenn man das nicht durfte."
Viele Kleinigkeiten im Verhalten der Mutter, könne man auf das Trauma der Deportation zurückführen, erklärt Müller: "Ihre Art zu essen oder das sich nicht gönnen. Sie hatte auch ziemlich kaputte Nerven, hat mich immer ermahnt, alles aufzuessen und machte sich Sorgen, dass ich friere. Ich wurde auch immer zu dick angezogen."
Jugend im Arbeitslager
Zunächst hätte sie sich nicht recht getraut, dieses Thema zu behandeln, sagt Müller, auch wenn es so nebenbei in vielen ihrer Geschichten angesprochen wurde. Denn die Leute im Dorf, auch die eigene Mutter, hätten nur sehr wenig erzählt. Erst durch die jahrelangen intensiven Gespräche mit Oskar Pastior und die gemeinsamen Reisen zu den Lagerorten in der Ukraine habe sie genug Informationen über das Leben im Lager bekommen: "Das konnte mir sonst niemand bieten. Auch sprachlich nicht. Ich glaube, er hat schon während der Lagerzeit diese Wahrnehmung auf sich selbst immer wieder gehabt. Er sagte auch ohne Erschrecken: Das Arbeitslager hat mich sozialisiert. Das war meine Jugend."
Zwar waren die Arbeitslager keine Vernichtungslager, wie Herta Müller betont, jedoch kamen auch dort tausende Menschen ums Leben. Von einem solchen Todesoper, einer guten Freundin der Mutter, hat sie ihren Namen geerbt: "Ich weiß das gar nicht von meiner Mutter, sonder von meine Großmutter. Sie hat mir einmal erzählt, dass eine Freundin meiner Mutter im Arbeitslager verhungert ist und dass sich meine Mutter da vorgenommen hat: Wenn sie einmal eine Tochter bekommt, wird sie Herta heißen."
Zahlreiche Literaturpreise
Herta Müller wurde 1953 im rumänischen Banat geboren und lebt seit 1987 als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie studierte Germanistik und rumänische Literatur an der Universität von Temesvar. Drei Jahre lange arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Als sie sich weigerte, mit dem rumänischen Geheimdienst, der Securitate, zusammenzuarbeiten, wurde sie entlassen.
Jahre als Hauslehrerin folgten. 1982 erschien ihr erstes Buch "Niederungen", in dem sie ihre Kindheit im Banat beschrieb. Das brachte ihr nicht nur konstante Demütigungen und Überwachung durch die Securitate, sondern auch die Missachtung der deutschen Landsmannschaften ein.
Herta Müller ist Trägerin fast aller großen Literaturpreise im deutschsprachigen Raum. Ihr aktuelles Buch "Atemschaukel" gehört zu den sechs Finalisten für den Deutschen Buchpreis. 2009 wurde Herta Müller mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Herta Müller zeichne "mittels der Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit", erklärte die Akademie.
Service
Herta Müller, "Atemschaukel", Hanser Verlag
Herta Müller, "Niederungen", Rororo
Herta Müller, "Der König verneigt sich und tötet", Hanser Verlag
Herta Müller, "Die blassen Herren mit den Mokkatassen", Gedichte, Hanser Verlag
Herta Müller, "Herztier", Neuausgabe, Hanser Verlag
Herta Müller, "Der Fuchs war damals schon der Jäger", Hanser Verlag
Herta Müller, "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet", Carl Hanser Verlag