Der Schlüssel zum Verständnis der Jetztzeit
Kafka und die digitale Überwachung
Im Löcker Verlag ist soeben das Buch "Kafkas Raum im Zeitalter seiner digitalen Überwachbarkeit" erschienen. In dem Buch konfrontiert die Architekturtheoretikerin und vielseitig interessierte Intellektuelle Sigrid Hauser Passagen aus Kafkas Romanen mit dem Vokabular des heutigen Sicherheitsdenkens.
23. November 2023, 15:32
Kulturjournal, 21.04.2010
Arbeitnehmer als Bittsteller, Migranten als Feinde
Der Landvermesser K. in Kafkas Roman "Das Schloss" kommt sich selbst abhanden in einer Gesellschaft, deren Regeln widersprüchlich, oft absurd und vor allem nicht zu durchschauen sind; wo Manipulation überall lauern kann und Verlass auf keine Gewissheit ist. Nicht anders geht es Josef K. in "Der Process" oder dem Amerika-Auswanderer Karl Rossmann in "Der Verschollene".
Sigrid Hausers Buch macht klar, dass Kafka zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur totalitäre Systeme literarisch vorweggenommen hat, sondern auch noch die unüberschaubaren Netzwerke der Informationsgesellschaft. Der Punkt dabei ist nicht nur, dass Kafka ein prophetischer Autor war, sondern seine Texte erweisen sich auch als Schlüssel zum besseren Verständnis dessen, was mit uns heute geschieht. Sigrid Hauser schreibt zum Beispiel über "Das Schloss":
Hier wird ein Staatswesen dargestellt, wie es bis zum heutigen Tag regiert beziehungsweise zu regieren vorgibt, ein Staatswesen, das den Arbeitnehmer zum Bittsteller degradiert, das den Fremden, den Ausländer, den Emigranten, den Andersdenkenden, den Anderen zum gemeinsamen Feind deklariert und das damit zugleich von seinen unverantwortlichen und undurchdringlichen Strukturen der Abhängigkeit ablenkt.
Macht, die nicht mehr verortbar ist
In "Das Schloss" herrscht ein äußerst mächtiger Beamtenklüngel über die Bewohner eines Dorfes. Der Machtapparat ist sichtbar, aber uneinsehbar. Niemand von außen durchschaut so recht, wer wem übergeordnet ist, wer wofür die Anlaufstelle ist, wer worauf Einfluss hat, und ob der Beamtenapparat nicht längst eine verrückt gewordene, nichts mehr Sinnvolles produzierende Maschine geworden ist. Macht, die nicht mehr verortbar ist - darin sieht Sigrid Hauser eine der signifikanten Parallelen zu heute:
"Einerseits gibt's die Regierungen, andererseits gibt es ja dann auch wieder übergeordnete Regierungen, die sitzen wieder ganz woanders - also EU oder was immer", sagt Sigrid Hauser. "Dann die Wirtschaft - und wer ist überhaupt ist die Wirtschaft? Ein System stürzt ab, wie mit den Banken, plötzlich gibt's da Personen, die dahinter stehen, und die haben dann die Schuld, aber wir sind eigentlich beteiligt. Wir werden ja beteiligt! Die in den Netzwerken integriert sind, die spielen mit".
Von "Biometrie" bis "Outplacement"
Das 270 Seiten starke Buch besteht aus ungefähr 50 Abschnitten. Es wechseln einander zwei Typen von Kapiteln ab: Ein Abschnitt behandelt ein Kafka-Thema, der darauffolgende ist einem Stichwort aus der heutigen Politik- und Mediensprache gewidmet wie etwa "Sicherheitsarchitektur", "Biometrie", "Coaching", "Ich-AG", "Kameraüberwachung". Alle Kapitel bestehen zu einem Gutteil aus kursiv gesetzten Zitaten. Das heißt, grandioses Deutsch - Kafka-Texte - wechselt mit Deutsch dieses Typs:
Das Information Awareness Office des Pentagon soll die gewaltigen Datenströme der Privatwirtschaft mit denen der Behörden zusammenführen und damit das Aktionsfeld der Anti-Terror-Ermittler ausweiten.
Oder, aus dem Kapitel zum Stichwort "Outplacement":
Das gesamte Paket für ein Unternehmen umfasst Beratung des Managements, Trennungskultur, Individualberatung für freigesetzte Führungskräfte, Beratung für freigesetzte Mitarbeiter, Beratung der verbleibenden Mitarbeiter im Hinblick auf Motivation und Teambildung zur Zukunftssicherung aller Beteiligten.
Aber was genau ist "Outplacement"? In "Kafkas Raum im Zeitalter seiner digitalen Überwachbarkeit" kann man sich diesbezüglich schlau machen. Der Band ist eine kleine Enzyklopädie der Methoden, mit denen alle Lebensbereiche bis zur Kunst und Kultur auf Gewinnmaximierung hin getrimmt werden - und ein Lesebuch zur Überwachungsgesellschaft. In Kafkas "Process" sitzen Richter und Gerichtsdiener auf jedem Dachboden einer vorstädtischen Wohngegend; Spitzel und Kontrolleure können dort alle sein. Heutzutage erledigen das Videokameras und zahllose andere Technologien.
Die Kontrolleure sind überall
"Das heißt, in jedem Wohnhaus sitzen die Kontrollore", so Hauser. "In jedem Wohnhaus gibt es die Möglichkeit, dass man seiner Freiheit beraubt wird. Und im Bezug auf die heutige Zeit: Die Möglichkeiten haben wir heute. Derjenige, der die Existenz nehmen kann, der muss nicht ein Beamter sein oder ein Regierender. Der kann de facto dein Nachbar, dein Freund, dein Partner sein ... irgendwer."
Wir alle sind gefährdet
Durch die neuen Überwachungstechnologien ist jeder und jede bis in die Details des Privatlebens hinein kontrollierbar. Theoretisch. Aber, so die häufige Entgegnung: Solange ich nichts verbrochen habe, kann mir das egal sein. Nur - da war doch der Fall der Österreicherin, die den Fehler machte, ihren Lebensgefährten, einen teils in den USA lebenden Künstler, bei einem Österreich-Aufenthalt zu heiraten. Seither darf sie in die USA nicht mehr einreisen - ihr wird unterstellt, sich einen dauernden Aufenthalt in den Staaten, zu welchem Zweck auch immer, erschleichen zu wollen. Oder der Fall der Frau, die Opfer eines digitalen Identitätsdiebstahls wurde. Sie steht vor dem Ruin, weil sie die Schulden bezahlen soll, die unter ihrem Namen gemacht wurden.
"In diesem Zusammenhang sind wir eigentlich alle gefährdet, gefunden zu werden - und haben eigentlich nichts verbrochen", meint Hauser.
Recht auf Arbeit abgeschafft
Wie das Recht auf Arbeit sukzessive abgeschafft wird und wie die politische und ökonomische Sprache dies zu verschleiern sucht, auch das zeigt Sigrid Hauser auf - mit Verweis auf Kafka. "In allen drei Romanen geht's darum, dass die Protagonisten Angst haben, den Arbeitsplatz zu verlieren, das geht durch. Oder auf Arbeitssuche sind, oder ausgebeutet werden...", sagt Hauser.
Und wenn man bei Kafka nachliest, wie seine Protagonisten systematisch manipuliert und damit verunsichert werden, dann fällt es einem hinsichtlich der Gegenwart wie Schuppen von den Augen, "wie das Individuum sukzessive dazu gebracht wird, dass es dann eher auf alle möglichen Ratschläge von dem und jenem hört, und dann gleich drauflos rennt, um diese Sache zu verfolgen, statt im Gegenteil das zu ignorieren und seinen eigenen Weg zu gehen", meint Hauser.
Solche Existenzprobleme werden immer wieder über die Exploration von architektonischen Räumen dargestellt, über Kafkas unergründliche Gang- und Treppenfluchten. Erschienen ist das vielschichtige, politisch überaus kritische Buch im Löcker Verlag.
Service
Lesung Sigrid Hauser aus dem Buch "Kafkas Raum im Zeitalter seiner digitalen Überwachbarkeit", 21. April 2010, Alte Schmiede Wien
Buch Sigrid Hauser, "Kafkas Raum im Zeitalter seiner digitalen Überwachbarkeit", Löcker Verlag
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