Rodolfo Walsh neu übersetzt
Das Massaker von San Martin
"Rodolfo Walsh, der Schriftsteller, der dem CIA zuvorgekommen ist." So titelt ein Aufsatz des kolumbianischen Autors Gabriel García Márquez in Anspielung darauf, dass es Rodolfo Walsh gelungen war, eine verschlüsselte Botschaft abzufangen und damit den Angriff der US-Armee auf die kubanische Schweinebucht vorauszusagen.
8. April 2017, 21:58
Márquez lobt in diesem Zusammenhang seine analytische Begabung, seine persönliche Integrität und sein politisches Engagement. Es sind auch diese Eigenschaften, die den österreichischen Autor und Übersetzer Erich Hackl an diesem argentinischen Autor irischer Herkunft interessieren. Erich Hackl hat Rodolfo Walshs Schlüsselwerk "Das Massaker von San Martin" neu übersetzt, einen investigativen Bericht, der auch seine literarischen Qualitäten hat.
Die Spuren verwischen
Drei Auflagen dieses Buches, vierzig veröffentlichte Artikel, eine Eingabe an den Kongress und unzählige weitere Vorstöße dienten während zwölf Jahren dazu, fünf aufeinander folgende Regierungen mit dieser Frage zu konfrontieren. Die Antwort war Schweigen. Alle diese Regierungen tragen Verantwortung für diesen Mord.
Wir schreiben den 9. Juni 1956 unter der Diktatur von Pedro Eugenio Aramburu. Eine Gruppe von Militärs rund um General Valle plant eine Erhebung gegen Aramburu. In einem beschaulichen Vorort von Buenos Aires stürmt die Polizei ein Haus, in dem sie Aufständische vermutet. Nachdem sich herausstellt, dass niemand der Verhafteten mit dem Aufstand in Verbindung zu bringen ist und vor allem, dass die Verdächtigen vor der Ausrufung des Standrechts festgenommen worden sind, kommt von ganz oben der Befehl, die Gefangenen auf offenem Feld zu erschießen, um die Spuren dieses offiziösen Missgeschicks zu vertuschen.
"Das Interessante bei 'Operación Masacre' ist ja eben dieses Wuchern des Textes", sagt Erich Hackl. "Das heißt, Rodolfo Walsh hat es geschrieben als Fortsetzungsserie für eine Zeitung und es hat ihn viel Mühe gekostet, überhaupt eine Zeitung zu finden. (...) Für die erste Buchausgabe hat er schon was ergänzt. Und dann hat er bei jeder neuen Ausgabe eigentlich was dazugeschrieben."
Vom Umgang mit dem Verbrechen
Erich Hackl hat Rodolfo Walshs Tatsachenbericht über das Massaker von San Martín mindestens so akribisch übersetzt, wie Rodolfo Walsh ihn recherchiert hat und der Verlag hat ihm auch Raum gegeben, das Herzstück des Buches, den eigentlichen Bericht, um Aufsätze und Anmerkungen des Autors zu ergänzen.
Rodolfo Walsh erfährt von besagtem Massaker das erste Mal in einem beiläufigen Gespräch in einem Kaffeehaus. Als er zu recherchieren beginnt, stellt er fest, dass mindestens sieben der vermutlichen zwölf Opfer ihre Erschießung überlebt haben. Rodolfo Walshs Recherche endet aber nicht mit dem mit der Schilderung des Tathergangs. Sie dokumentiert darüber hinaus, wie die Justiz und die Öffentlichkeit mit diesem Verbrechen umgehen, besser gesagt, wie sie es umgehen.
"Je mehr er gefunden hat und je mehr ihm erzählt wurde, desto größer ist seine Entrüstung geworden über dieses Verbrechen", meint Hackl. "Ein Verbrechen, das von der Polizei begangen wurde und von der vorgeblich für die Menschenrechte eintretenden Regierung gedeckt wurde. Der Hauptverantwortliche für das Massaker wurde nie zur Rechenschaft gezogen."
Vorbote der Diktatur
Als ein Richter die Klagen der Opfer ernst nimmt, wird der Fall sogar mit fragwürdigen Argumenten einem Militärgericht überstellt, um Verurteilungen zu verhindern.
Die Arbeiten an diesem Buch prägen auch Rodolfo Walshs politisches Denken und Handeln. Er erkennt in dem Massaker den Vorboten eines zunehmend autoritären Klimas im Lande, das mit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 gipfeln wird.
"Man kann 'Operación Masacre' also nicht nur als einen Tatsachenbericht lesen, der meines Erachtens - so wie er geschildert ist - einzigartig dasteht", meint Hackl. "Man kann ihn auch lesen als eine heimliche Autobiografie eines engagierten Schriftstellers oder Intellektuellen, der merkt, er muss Partei ergreifen, über die Opfer des damaligen Massakers hinaus."
Kritik am Journalismus
Ein immer wieder kehrendes Thema in Rodolfo Walshs Werken ist die Frage der Legitimität von Gewalt. Bereits in "Operación Masacre", so der Originaltitel des Buches, räumt er am Beispiel eines mutmaßlichen Terroristen ein, dass ihm die Guerilla noch wesentlich lieber ist als der Staatsterrorismus.
Jetzt ist "Marcelo" im Gefängnis, und ich freue mich für ihn, dass sie ihn gefasst haben, noch ehe seine Bomben unschuldige Opfer fordern konnten. Aber ich werde nicht derjenige sein, der diesem zerrütteten Menschen die Bezeichnungen kriminell, verantwortungslos und feig aufbürdet. Diese Aufgabe überlasse ich meinen Kollegen, den "seriösen" Journalisten, den Liebhabern der simplen Wahrheit.
Unüberhörbar in dieser Passage ist auch seine Kritik am kommerziellen Journalismus, dem er im Buch ein ganzes Kapitel widmet, um die Oberflächlichkeiten der Berichterstattung rund um den Fall aufzudecken. Rodolfo Walsh setzt seine Erkenntnis, dass Gewalt in manchen Fällen die einzige Möglichkeit des Widerstandes ist, konsequent um, lobt den Tod seiner Tochter Victoria in einem wilden Feuergefecht am der Seite der Guerilla als gerechten, großzügigen und vernünftigen Weg und stirbt 1977 selbst im Schusswechsel mit einer paramilitärischen Einheit.
"Literarischer Wert im Ethischen"
Wer jedoch glaubt, mit Rodolfo Walshs Buch ein politisches Pamphlet ohne jeglichen literarischen Wert in der Hand zu halten, der irrt gewaltig. In bemerkenswerten Erzählungen wie etwa "Esa mujer" ("Diese Frau"), die von der Entführung des Leichnams von Evita Perón handelt, stellt er sein streng literarisch gesehenes Talent virtuos unter Beweis. Und selbst dieser Tatsachenbericht liest sich wie ein spannender Roman.
"Ich glaube, die literarischen Qualitäten in diesem Text bestehen eben im Verzicht darauf, sich allzu sehr Dinge vorzustellen und vor allem, den Fall zu benutzen, um daraus eine Geschichte zu zimmern, die halt wesentlich attraktiver sein könnte", so Hackl. "Also, ich glaube, dass der literarische Wert von Walsh eigentlich genau im ethischen Wert liegt."
Weg zum Dokumentarismus
In einem Gespräch mit dem argentinischen Autor Ricardo Piglia verteidigt Rodolfo Walsh sein Werk ebenfalls gegen das Argument, viele seiner journalistischen Arbeiten hätten einen guten Stoff für Romane geboten. Diese Erlebnisberichte und Anklageschriften verdienen den gleichen Aufwand und die gleiche Anstrengung wie fiktive Werke, erklärt er. Und tatsächlich wühlte sich Rodolfo Walsh jedes Mal durch einen Berg von Interviews, Dokumenten und anderen Materialien, bevor er einen Artikel verfasste.
Wer den Autor Erich Hackl kennt, wenn er zum Beispiel in seinem Roman "Als ob ein Engel" das Schicksal einer argentinischen Familie unter der Militärdiktatur beleuchtet, dem drängt sich die Frage auf, was Erich Hackl und Rodolfo Walsh gemeinsam haben.
"Ich glaube, gemeinsam haben wir diese Kombination aus einem literarischen und einem politischen Interesse", sagt Hackl. "Wie kann man jetzt den Anspruch auf eine politisch engagierte Literatur mit literarischen Methoden zusammenbringen? Deshalb bei ihm damals der Weg zum Dokumentarismus, deshalb sozusagen bei mir der Versuch, immer dokumentarisch zu arbeiten."
Hackl betont gleichzeitig, dass er sich im Gegensatz zu Rodolfo Walsh mit seiner Arbeit nie in Gefahr gebracht habe. Denn Walsh stand inmitten der Ereignisse, über die er berichtete und bezahlte sein Engagement schließlich mit dem Leben. War also die Auseinandersetzung mit Rodolfo Walsh eine Bereicherung für Erich Hackl?
"Es war eine wahnsinnige Bereicherung und es war vor allem auch ein Bedürfnis, muss ich sagen. Also mir hat das eine große Freude gemacht, das übersetzen zu können, wobei ich wie bei jeder Übersetzung dann auch geflucht habe."
Service
Rodolfo Walsh, "Das Massaker von San Martin", aus dem Spanischen übersetzt von Erich Hackl, Rotpunktverlag
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