Wilhelm Genazino in Wien

Experte für die Trivialitäten des Alltags

Den deutschen Autor Wilhelm Genazino konnte die Wiener Universität für angewandte Kunst als Lehrenden gewinnen. Am Mittwoch, 15. Dezember 2010 hielt er am Institut für Sprachkunst einen Workshop für Studenten ab und am Abend las er im Literaturhaus aus seinem jüngsten Roman "Das Glück in glücksfernen Zeiten".

Kultur aktuell, 16.12.2010

Lange Zeit war der heute 67-jährige ein Geheimtipp, spätestens seit der Auszeichnung mit dem Büchnerpreis 2004 begeistert er auch international eine große Lesergemeinde - als Experte für die Trivialitäten des Alltags, für das Absurde und Lächerliche.

Ambivalenz des Scheiterns

Die Ambivalenz des Scheiterns, die "Komik als dichterische Kraft" und der so genannte "gedehnte Blick" - das sind die Säulen der Erzählkunst des Wilhelm Genazino. "Der gedehnte Blick" - das ist die Kunst der Wahrnehmung, die er in seinen Romanen demonstriert und die er auch seinen Studenten vermitteln will.

"Ich empfehle den Leuten, sie sollen einen Spaziergang machen. Und bitte zwar dort, wo nicht die anderen sind. Und selbst wenn es dort nicht so schön ist - das ist nicht so schlimm. Sie sollen der Katze zugucken, wenn die auf eine Maus wartet. Oder sie sollen dem scheißenden Hund zuschauen. Also Dinge, die angeblich nicht empfehlenswert sind, sondern dadurch, dass sie beachtet werden, die Individualität des Schauenden hervorbringen bzw. sie fördern", so Genazino.

Plädoyer für die Langeweile

Von den Banalitäten des Alltags erzählt Wilhelm Genazino. Er plädiert für die Langeweile und ist doch einer der kurzweiligsten Erzähler deutscher Sprache. Seine Charaktere sind meist Männer mittleren Alters - ausgestattet mit einem oft traurigen Berufs- und Liebesleben, und mit einem beinahe zwanghaften Blick für Details, einer "monströsen Empfindlichkeit" lässt er sie durch die Stadt streifen, als Experten der Selbst-Erforschung und Selbst-Entblößung.

Aus einer "Einfühlung in den Mangel" habe er - aus ärmlichen Verhältnissen kommend - seine Erzählperspektive entwickelt, sagt Wilhelm Genazino - und aus einem elementaren Distanzgefühl: "Ich nehme an, dass es ein Ergebnis meiner hyperrealistischen Erziehung ist. Meine Eltern waren auch - wie soll man das jetzt milde ausdrücken - enge Menschen. Also starr wie das Kaninchen auf die Schlange auf die Wirklichkeit geguckt und haben gesucht: Wo ist hier der Notausgang? Und ich habe gemerkt: Das kann ich nicht aushalten. Ich brauche die Heiterkeit, die Ironie, den Humor, wie auch immer."

Individualitätsgewinn

Die komische Betrachtungsweise ist die einzige, die übrig geblieben ist, meint Genazino: "Weil nur noch die komische Betrachtungsweise dem Subjekt überhaupt erlaubt, noch Spielraum zu haben. Wenn man nur noch realistisch funktioniert, dann ist man ja der Sklave der Verhältnisse. Und die Ironie ist ja immer auch Abstand. Das ist schon der Individualitätsgewinn."

Der Befund des Menschen im 21. Jahrhundert: Die verinnerlichte Ohnmacht sei zu einem Kulturgefühl von uns allen geworden: "Das ist natürlich melancholisierend. Und ich sage: Zum heutigen Leben des Individuums gehört ein gewisser Mindestbetrag von Melancholie dazu. Der ist nicht mehr zu umgehen. Das hat die Literatur des 19. Jahrhunderts gerade hier in Wien gewusst - ich muss nur Rilke erwähnen oder Musil oder Ödön von Horváth. Das ist ein schwer alteuropäisches Melancholiegebiet, das man heutzutage nur mit Hochgenuss genießen kann."

Neuer Roman erscheint

Im Herbst des kommenden Jahres wird ein neuer Roman erscheinen, und - soviel wird schon verraten: Genazino wird seinem Thema treu bleiben: "Wenn sie meine Sachen kennen, werden sie schon auf den ersten fünf Seiten den Erzähler wiedererkennen. Man denk der ist von dem einen Roman einfach herübergesprungen über die schneenasse Straße und bums, da war ein neuer Roman da. Und da geht das einfach weiter."

Die Werke von Wilhelm Genazino sind im Hanser Verlag erschienen. Zuletzt "Das Glück in glücksfernen Zeiten".

Textfassung: Rainer Elstner