Tunesischer Politologe über aktuelle Lage

"Tunesien muss aus der Krise heraus"

In Tunesien hören die Proteste in den Straßen nicht auf. Das alte Regime behält Schlüsselressorts wie das Innen- Außen- und Verteidigungsministerium. Wird die Regierung überleben? Kann es einen Kompromiss geben? Ja, sagt Ridha Chennoufi, Professor für politische Philosophie an der Universität Tunis. Er ist überzeugt, dass Tunesien den Weg aus der Krise schaffen wird.

Vor allem in Tunis kommen immer wieder hunderte Menschen zusammen, um den Rücktritt der Übergangsregierung zu verlangen. Diese hat einerseits bereits angefangen zu arbeiten, andererseits zeigt sie bereits Auflösungserscheinungen: Vier Minister, unter ihnen drei Vertreter der Gewerkschaft, sind aus Protest gegen die Teilnahme von sechs Männern des alten Regimes an der Regierung einen Tag nach der Angelobung schon wieder ausgetreten.

Mittagsjournal, 20.01.2011

Ridha Chennoufi im Ö1 Interview mit

Protestbewegung gespalten

Den Diktator haben die Tunesier verjagt. Jetzt hat sich die Protestbewegung in zwei Lager gespalten: das der Radikalen, die einen völligen Neuanfang wollen und das der Reformisten, die einen Übergang in Zusammenarbeit mit einigen Figuren des alten Systems befürworten. Es wird einen Ausweg geben, ist Professor Ridha Chennoufi zuversichtlich: „Die Regierung wird halten und weiterarbeiten, aus mehreren Gründen. Zum einen weil der Staat funktionieren muss."

"Kultur des Konsens"

Die Radikalen wollen die geltende Verfassung aufheben, wollen eine Tabula Rasa. Es wäre ein Sprung ins Ungewisse, sagt der Politikprofessor: "Wir kennen die Geschichte. Eine Tabula rasa? Wie agiert man? In welchem rechtlichen Rahmen, wer ist verantwortlich?! Revolutionen, die so vorgegangen sind, haben nie eine Demokratie hervorgebracht. Tunesien hat aber eine Kultur und Geschichte des Konsens."

Chennoufi befürchtet keine Radikalisierung

Das radikale Lager sowie die derzeitigen Proteste, so Ridha Chennoufi, seien von der extremen Linken getragen, den ewig gestrigen, die Arbeiterräte konstituieren möchten. Und natürlich machen viele mit. Eine Radikalisierung befürchtet der Politikprofessor dennoch nicht: "Mein Gefühl sagt mir, dass wir, paradoxer weise, sehr leicht aus dieser Situation herauskommen."

"Das Problem ist der Premierminister"

Ridha Chennoufi erklärt warum: Die Protestbewegung sei von unten gekommen und in keinem Moment ideologisch gewesen. Nun hätten die Intellektuellen und politischen Eliten die Führung übernommen. In den Kommissionen, die das System reformieren und überwachen und in der Regierung säßen fähige und anerkannte Personen mit viel Geschick für Verhandlung und Mediation.

Die Gewerkschaft habe ihre Vertreter zwar zurückgezogen, aber, laut Chennoufi, um unter bestimmten Bedingungen zurückzukehren: "Das Problem sind vor allem der Innen- und der Premierminister. Der Premier wird nicht loszuwerden sein. Es bleibt der Innenminister. Ben Ali hat ihn drei Tage vor seiner Flucht eingesetzt. Er hat der Polizei Schießbefehl gegeben. Ihn abzusetzen, beziehungsweise versetzen, wäre eine Lösung, darüber wird verhandelt."

"Es gibt kein Zurück"

Eine Rückkehr der alten Eliten hält der Politikprofessor für undenkbar: "Alles, was das alte Regime dargestellt hat, ist brutal attackiert worden, symbolisch und physisch zerstört. Wir diskutieren viel und wir sind überzeugt, es gibt kein Zurück."

"Tunesien wird es schaffen"

Auch viele kluge Maßnahmen würden zur Beruhigung beitragen: Reisepässe für jeden, Pressefreiheit, die Generalamnestie für politische Gefangene und Exilierte. Mittwochabend hat Übergangspräsident Mebaza den "totalen Bruch mit der Vergangenheit" versprochen und eine vollständige Trennung zwischen dem Staat und der bisherigen Einheitspartei RCD.

Auch wenn es nie Garantien für etwas geben kann, sagt Chennoufi und macht sich selber Mut: "Tunesien muss aus der Krise heraus, so schnell wie möglich, und es wird gelingen."