Säkularisierung vs. Jugendschutz

Alkoholverbot in Istanbul?

Schauplatz: Der Pier in Moda. Hier war einst die erste Anlegestelle der Fähre, die vom asiatischen Teil der Stadt zu den Badeorten auf den Prinzeninseln fuhr. Das alte Fährhaus ist heute ein Restaurant und eines der beliebtesten Ausflugsziele mit herrlichem Blick auf das Marmara-Meer.

Im Sommer 2008 übernahm die städtische Gesellschafft "Beltur" den Betrieb und belegte das historische Lokal mit einem Alkoholverbot.

Das trieb sogar die friedlichen Moda-Bewohner auf die Barrikaden. Jeden Freitag haben sie monatelang gegen das Alkoholverbot in diesem Ausflugslokal protestiert, erzählen die Mitglieder und Sympathisanten vom Verein der Freiwilligen in Moda, der sich unmittelbar am Fuß des Piers befindet. Sie haben Hunderte Unterschriften gegen das Alkoholverbot gesammelt, die sie bei der Groß-Gemeinde eingebracht haben.

Lokal als Inspirationsquelle

"Diese Leute sehen das Leben durch den Boden der Flasche", sagte damals Premier Recep Tayyip Erdogan in Richtung der Protestierenden. Dieses eigentümliche Demokratieverständnis ist heute noch ein heißes Thema unter den Aktivisten gegen das Alkoholverbot. Vor neun Jahren - lange bevor dort ein Restaurant eröffnet worden ist - haben einige der Aktivisten das aufgelassene Fährhaus aus Holz renoviert und wieder zum Leben erweckt.

Der Obmann Hüseyin Aksen erinnert sich an die gute alte Zeit: "Dieses historische Lokal wurde damals nicht nur als Restaurant genützt. Es diente auch kulturellen und sozialen Aktivitäten. Der Pier von Moda beherbergte auch viele Künstler, für die das Lokal eine Inspirationsquelle darstellte. Während sie hier ihre Gedichte oder ihre Schriften verfassten, genossen sie vor diesem wunderbaren Ausblick ihr Glas Wein oder Raki. Das Lokal verband uns miteinander."

Eingriff ins soziale Leben

Der Verlust ihres Lokals sitzt bei diesen Bewohnern noch tief. Damals haben sie hier Verlobungen und Hochzeiten mit ihren Familien gefeiert und auch Alkohol getrunken, erzählt Agop Mihci, pensionierter Moda-Bewohner armenischer Abstammung. Wer sich einer bestimmten Vorstellung von Frömmigkeit nicht unterordne, werde von der Groß-Gemeinde bestraft, meint er.

Das Alkoholverbot sei nur ein Symbol, Schritt für Schritt werde in das öffentliche und soziale Leben eingegriffen, betont die Studentin Ece, deren Familie seit Generationen hier, in Moda, lebt. Ja, es sei ein Kulturkampf. Ihre Freundin Beyza, mit der sie im Vorgarten eines Caféhauses sitzt, sieht darin einen Angriff gegen den Säkularismus und die demokratischen Rechte. Andere Zwänge können vielleicht folgen, befürchtet Ece, wie zum Beispiel, dass sie und ihr Freund auch nicht Händchen halten dürfen.

Die Aufgabe der Stadtverwaltung bestehe darin, dass der Alkoholkonsum vor allem unter den Jugendlichen reduziert werde, argumentiert Direktor Fatih Karacam von der "Beltur"-Gesellschaft. Es fehle in der Stadt an preiswerten Lokalen, die auch ärmere und religiöse Familien besuchen könnten, verteidigt Istanbuls Bürgermeister Kadir Toptas diese Maßnahme.

Das mag für einige Lokale in den öffentlichen Parkanlagen stimmen. Aber in besagtem Fährhaus auf dem Pier von Moda sind die Preise für Getränke und Gerichte alles andere als erschwinglich. Ein Toast kostet etwa 2 Euro 50 Cent, der türkische Tee, serviert in der Tasse, 2 Euro, also nichts für die Geldbörse der Armen.

Während gegen Abend in diesem Ausflugslokal nur ein paar Jugendliche ausharren, kann sich die Ladenbesitzerin des Sarküteri, eines Supermarkts 100 Meter entfernt vom Fährhaus, über den Alkoholverkauf nicht beklagen. Vor allem am Wochenende nehmen die Jugendlichen alkoholische Getränke mit und setzen sich ans Ufer beim Fährhaus, erzählt sie. Hinter ihr ein Regal in der Breite des Ladens, vollgepackt mit hartem Alkohol, Bier und Anisschnaps-Flaschen.

Alkoholsteuer um 120 Prozent erhöht

Es gibt immer mehr alkoholfreie Restaurants und die Regierung hat das gesetzliche Schutzalter für Alkoholkonsum auf 24 Jahre angehoben. Tatsächlich ist aber der Alkoholkonsum in den neun Jahren AKP-Regierung stark gestiegen.

Die Regierung habe als weitere Maßnahme dagegen in den letzten acht Jahren kontinuierlich die Steuern erhöht, zuletzt sei die Steuer auf Weinprodukte über Nacht um 120 Prozent erhöht worden, erzählt Cahit Kutman, Sohn einer traditionsreichen Istanbuler Weinproduzenten-Familie. Die Entwicklung wirke sich längerfristig betrachtet natürlich auf die Weinproduktion negativ aus.

Der Weg, den die Republik seit der Gründung beschreiten wollte, sollte nicht zu einer intoleranten Gesellschaft führen. Das stimme ihn allmählich nachdenklich, sagt Kutman.

Religiös-konservativer Hintergrund

Die Anordnung des Alkoholverbots liegt in der Kompetenz der Bezirke. Nur einige Bürgermeister der 39 Bezirke sind in Istanbul geboren worden. Die anderen kommen, wie der Großteil der Stadtbewohner Istanbuls, aus ländlichen Gebieten und betreiben Politik für ihre Klientel mit religiös konservativen Werten.

Es gebe ernstzunehmende Vorurteile unter den Konservativen, was Alkohol und Alkoholkonsum betrifft, stellt der Soziologe Kenan Cayir von der Bilgi Universität fest. Der Kampf um das Alkoholverbot sei zum Symbol demokratischer Rechte geworden, analysiert Cayir:

"Das entzündete einen Streit und zugleich eine Debatte zwischen den Menschen, die sich laizistisch bezeichnen, und den konservativen religiösen Kräften. Der Konservatismus ist ja keine vollendete Sache. Er befindet sich im ständigen Wandel, in einem Prozess. Soziologisch wäre es falsch zu glauben, es gäbe eine religiöse Schicht, die sich nie verändere. Sie käme als monolithischer Block und beginne in der Stadt zu leben. Aber diese Schicht verwandelt sich, sobald sie mit der Modernität in Berührung kommt. Ja, das verursacht große Spannung. Man sagt abfällig: Nun werden Sklaven zu Herren. Aber das demokratische Leben ist eben ein solches. Es könnte zeitweise Absichten, in das öffentliche soziale Leben einzugreifen, geben. Aber ich glaube nicht, dass es zu einem generellen Alkoholverbot kommen könnte."

Im gleichen Zug warnt der Soziologe vor einem klischeehaften Denken. Im Zuge der Modernisierung müssen die religiösen Identitäten nicht unbedingt abgelegt werden. Bis jetzt habe man die Modernisierung über Freizügigkeit definiert. Aber die Menschen wollen religiös leben und modern denken. So seien die heutigen Führungskader der Regierungspartei AKP, konstatiert er. Man könne die Menschen, die ihre religiöse Identität beibehalten wollen, nicht einfach als primitiv bezeichnen und von der Debatte ausschließen, meint Cayir:

"Im Moment gibt es Potenzial zur Konfrontation, aber auch zur Demokratisierung, zur demokratischen Gesellschaftordnung. Wenn wir heute nach einer modernen Gesellschaft streben, müssen wir lernen, wie wir trotz der religiösen Unterschiede demokratisch zusammenleben können, ohne vor den Radikalismen zu kapitulieren. Das ist die zentrale Frage."

Mit westlicher Kultur verflochten

Wie die türkische Metropole Istanbul diese Frage zum Positiven wendet, wird sich in Zukunft weisen. Aber die Angst, dass Istanbul Teheran wird, hat keinen berechtigten Grund, meint die Soziologin Nese Erdiler, die sich an der Bilgi-Universität mit Fragen der Binnenmigration befasst:

"Das entspricht nicht der Tradition dieses Landes. Die Menschen sind dermaßen mit der westlichen Kultur und dem Wirtschaftsleben verflochten, es ist nicht möglich, dass sie darauf verzichten oder sich davon abkoppeln. Unmöglich!"

Text: Serdar Erdost