An der Grenze gestrandet

Syrien: Flüchtlinge berichten von Gräueltaten

Tausende Menschen sind vor der gewaltsamen Niederschlagung der Protestbewegung in Syrien geflüchtet. 9.000 sind in den letzten Tagen an der Grenze in der Türkei in Zeltlagern untergekommen. Sie erzählen von ihrer Angst und den schrecklichen Gräueltaten, die manche von ihnen beobachten mussten.

Morgenjournal, 18.06.2011

Umhüllt in blaue Plastikplanen

Fröhliche, beinahe ausgelassene Kinderstimmen sind wohl nicht das, was man in einem Flüchtlingslager erwartet. Doch die Kinder von Yayladagi haben einen Mordsspaß dabei, die blauen Plastikplanen, die sie vor der Außenwelt verstecken sollen, ein klein wenig zu lüften und mit den fremden Leuten auf der Straße Kontakt aufzunehmen.

Yayladagi ist ein türkisches Dorf in Rufweite der syrischen Grenze, und die Kinder im Lager sind mit ihren Müttern vor der Brutalität der syrischen Armee geflüchtet. Die blaue Plastikplane haben die türkischen Behörden um die Flüchtlinge gespannt. Um sie zu schützen, heißt es offiziell. In Wirklichkeit, um den Konflikt mit dem Nachbarland nicht auch noch durch öffentliche Anschuldigungen auf türkischem Boden anzuheizen.

Türken bringen Lebensmittel

Immer wieder kommen Leute aus dem Dorf mit Taschen und Säcken für die Flüchtlinge vorbei, werden von den Torposten abgewiesen und schaffen es doch immer wieder, ihre Mitbringsel durch den Zaun zu stecken. Warum sie das tun? Dazu will sich keiner von diesen spontanen Helfern äußern.
Er kenne die Flüchtlinge gar nicht und habe nichts für sie mitgebracht, sagt ein etwa vierzig-jähriger Mann, der einen prall gefüllten Sack angeschleppt hat.

Die Türken aus der Umgebung hätten eben Angst, dass sie drüben in Syrien Schwierigkeiten bekommen, wenn sie hier den Mund aufmachen, erklärt ein Adabei, der seit Tagen die schwierigen Dialoge zwischen Dorfbewohnern und Journalisten beobachtet.

Angst auf beiden Seiten

Tatsächlich sind bisher viele in Yayladagi einmal oder sogar mehrmals die Woche nach Syrien hinüber gegangen um billige Lebensmittel oder Textilien zu kaufen, und in der Türkei teuer zu verkaufen.
Der Fleischhauer Mehmet Ergurdel, ein kräftiger, groß gewachsener Mann, hat weniger Bedenken, die Dinge beim Namen zu nennen:

Es ist für die Flüchtlinge sehr schwer, was sie jetzt durchmachen müssen, aber für uns Türken hier ist es auch sehr schwer, sagt er. Wer jetzt hinüber gehe, müsse um sein Leben bangen. Hoffentlich wird in Syrien bald alles gut vorübergehen. Und wir Türken müssen dabei helfen.

Besuch von Angelina Jolie

Vor dem Flüchtlingslager sind auf einmal Sprechchöre zu hören, die immer lauter werden. Es sind vor allem Frauen mit Kopftüchern, die sich dicht zusammen gestellt haben, um besser hörbar zu werden. Und doch kann man nur schwer verstehen, was sie rufen. Denn die türkischen Polizisten hindern sie daran, näher zum Zaun zu kommen. Einige der Frauen halten ein arabisch geschriebenes Plakat hoch.

Was die Eingeschlossenen den Journalisten draußen mitteilen wollen: Wir wollen in Syrien leben. Warum tun die Europäer nicht mehr, damit wir bald wieder in unsere Dörfer zurück können? Vielleicht fühlen sich die Flüchtlinge auch gestärkt, weil sie heute seltenen Besuch bekommen haben. Angelina Jolie, die junge Frau aus einer unvorstellbar fernen Welt, hat sich ihre Zelte angesehen und sich einige ihrer Erlebnisse angehört. Schreckliche Geschichten von abgebrannten Dörfern und zerstörten Ernten, von Folter und Vergewaltigung.

Als die Demonstration zu Ende geht und es im Lager wieder stiller wird, fährt langsam ein schwarzer Mercedes vorbei, in dem vier Männer sitzen. "Alles Lügen, was die da drinnen erzählen", ruft der Fahrer den verblüfften Reportern zu. "Wisst ihr nicht, dass da drinnen nichts als Schwule sitzen?" Nach diesen Worten steigt der Mann aufs Gas, Richtung syrische Grenze. Eine friedliche Lösung des syrischen Machtkampfes scheint nicht in Reichweite.