Wie Künstler/innen die "Jasmin-Revolution" antreiben

"Wir schaffen das neue Tunesien"

Der "arabische Frühling" wirkt in der ganzen arabischen Welt nach, auch wenn er sich bisher nicht überall durchgesetzt hat, wie in Syrien oder Bahrain. Das Modell für all diese Revolutionen entstand in Tunis. Am 14. Januar 2011 wurde der Diktator Ben Ali vertrieben - seitdem fragt sich die Welt, was aus dem "Frühling von Tunis" wird.

Fest steht: diese Revolution wurde lange vorbereitet von den Künstlern, Musikern und Intellektuellen des Landes. Es war die Mittelschicht, die die Revolution umsetzte, aber sie wurde unterstützt von einer Kulturszene, die in Tunesien besonders kreativ ist.

Hoffnung und Aufbruch

Tunis, im Sommer 2011. Gerade hat das Land das bedeutendste Ereignis der vergangenen 60 Jahre hinter sich: eine Revolte, die den Diktator Ben Ali stürzte und ihn am 14. Januar nach Saudi-Arabien vertrieb. Doch das Land bleibt in der Schwebe - hoffnungsvoll und gefährdet, begeistert und skeptisch. Niemand weiß, ob die Errungenschaften dieser Revolution von Dauer sein werden. Immerhin, die ganz brutalen Zeiten des Ancien Régime sind ein für allemal vorbei, betont die bekannteste Schauspielerin des Landes, Rasa Ben Ammar:

"Am 11. Januar hat mich die Polizei während einer Demonstration zusammengeschlagen. Da lagen gefühlte fünfzig Polizisten auf mir und prügelten auf meinen Kopf ein. Es war furchtbar, so furchtbar, dass ich nicht einmal mehr Schmerz empfand. Man schleifte mich an den Haaren über die ganze Avenue Bourhgiba. Und Polizisten schrien: Hure, ich sollte das Land verlassen. Sie kannten mich genau, sie nannten mich beim Namen, weil wir vorher schon einmal ein Sit-in organisiert hatten, als die Regierung mir mein Theater wegnehmen wollte. Aber am schlimmsten war, dass ein junger deutsch-französischer Fotograf neben mir eine Tränengasgranate abbekam, die ihm den halben Kopf abgerissen hat. Im Vergleich dazu ging es mir hervorragend."

Diskussionen in Straßencafés

Tunesiens Intellektuelle, Schauspieler, Künstler und Blogger - sie waren mitten drin in der Jasmin-Revolution, sie haben sie mit vorbereitet und ihr ein Gesicht gegeben. Viele von ihnen arbeiten weiter an dieser Revolution als work in progress.

Heute sitzen wieder Männer in den Cafés der großen Prachtstraße von Tunis, der Avenue Bourghiba, sie rauchen im Café de Paris, das so französisch aussieht wie ein unmittelbarer Klon vom Ufer der Seine. Man liest Zeitungen und diskutiert.

Schon das ist neu: Dass in der Öffentlichkeit gestritten und diskutiert wurde, war früher völlig undenkbar. Und doch: nichts ist geregelt. Gegenüber dem Café de Paris stehen immer noch gepanzerte Fahrzeuge, das Innenministerium gleicht einer Festung.

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte

Einer, der unzählige Bilder von Polizisten und Demonstranten aufgenommen hat, ist Hameddine Bouali, der "Fotograf der Revolution". Zu dem Foto einer jungen Frau, die auf ihr T-Shirt geschrieben hatte "Tunesien gehört mir, Tunesien gehört dir, Tunesien gehört allen", sagt er: "Das heißt: Niemand sollte ausgeschlossen werden - egal ob er religiös ist oder nicht, egal ob er den Ramadan einhält oder nicht. Ob man einen Schleier trägt oder einen kurzen Rock, ob man Alkohol trinkt, ob man an Gott glaubt oder nicht. Das ist das neue Tunesien - wir alle leben auf diesem Grund und Boden, in diesem Land. Jeder kann glauben, was er will, aber niemand darf dem anderen irgendetwas aufzwingen.

Das ideale Foto der Revolution - eine junge Frau mit schwarzem Haar, die ihren Zorn wild herausschreit, schön, selbstbewusst, voller Energie, eine Frau die nichts fürchtet - ein Foto, das den Betrachter umwirft, die Farben rot und weiß, die Frau eine Ikone.

Seit dreißig Jahren fotografiert Hameddine Tunesien, gibt Seminare, hat den ersten Fotoclub von Tunis gegründet. Lange hat sich niemand für ihn interessiert, heute hat er enormen Erfolg, er ist der Mann der Stunde. Zeitungen in der ganzen Welt drucken seine Bilder, er stellt jetzt in London aus und in New York, in Paris, Rio wartet. In Tunis laufen gleich mehrere Ausstellungen gleichzeitig.

Rap gegen das Regime

Auch der Rap hat Tunesien verändert. Er war die mutigste Kunstform, die sich dem Regime Ben Alis entgegenstellte. Das sei doch fantastisch, sagt die Schauspielerin Rasa Ben Ammar, dass sich ein junger Mann einfach vor eine Kamera stellt, dass er Bewegungen macht und dem Präsidenten beschimpft und brüllt, welch erbärmliche Kreatur er ist. El General nennt sich der bekannteste und wirkungsvollste dieser Rapper, sein Lied "Rais Lebled" war der Soundtrack der Revolution.

Es gibt neben der Musik aber auch ganz andere Töne in Tunesien. Die hört man im Kulturzentrum Madart in Karthago, eine halbe Autostunde von Tunis. Hier hat Rasa Ben Ammar ihr Theater - eher unfreiwillig, denn aus Tunis hat sie die Familie von Ben Ali verdrängt.

"Wir arbeiten nicht mehr auf dieselbe Weise wie vor der Revolution", erzählt Rasa Ben Ammar. "Wir sind ein Tanztheater, der Körper ist wichtig bei uns. Jetzt arbeiten wir zum Beispiel über 'Le Sacre du printemps' von Strawinski. Das ist kein Zufall. Denn dieses Stück ist immer in den schwierigsten Momenten der Geschichte aufgeführt worden, zumindest der neueren Geschichte. Da geht es um Chaos, aber wenn man genau hinschaut ist das ein sehr rhytmisches Chaos. Strawinski erzählt vom Erwachen der Tiere, dem Erwachen aller kleinen Lebewesen im Frühling. Kein sanftes Erwachen, sondern ein recht gewalttätiges, aber kein blutiges. Und genau das ist schön und das ähnelt unserer Revolution."

Neues Gegenwartstheater

Am früheren Sitz des Theaters, in Tunis, wollte ein Neffe Ben Alis unbedingt einen Supermarkt bauen - das Ergebnis: die Künstler mussten weichen. 15 Jahre lang gab es kein spannendes Gegenwartstheater in Tunis, erst vor sieben Jahren wurde der luxuriöse Madart-Komplex in Karthago eröffnet - viel zu pompös, meint Rasa Ben Ammar, schon fast neo-mussolinisch, aber das ist ein strenges Urteil, der Bau ist elegant, weiß und schön.

"Ich glaube, man muss jetzt die Vorrangigkeit und die Notwendigkeit des Theaters begreifen", meint Rasa Ben Ammar. "Unser Theater ist radikales Gegenwartstheater. Ich lebe jetzt, ich erzähle, was ich jetzt erlebe. Wir sind ein Land ohne Kunsthochschule, ohne Tanzakademie. aber gerade wegen dieses Mangels muss die Kunst mit ihrer Tiefe existieren, denn ein Land, dessen Institutionen nicht mehr ausbilden, ist wie ein Haus, das keine Spiegel hat."

Ihr neues Stück heißt "Facebook" - eine Hommage an die Revolution, denn ohne Facebook wäre die tunesische Revolution nicht zustande gekommen. Noch wird geprobt, bald soll das Stück auch nach Europa kommen und nach Südamerika, nach Rio.

"Ich habe Facebook am Anfang überhaupt nicht gemocht", sagt Rasa Ben Ammar. "Meine Schwester, die auch für unser Theater arbeitet, sagte dann zum ersten Mal vor zwei Jahren: Schau mal, es gibt auf Facebook diese kleinen Filme, und ich habe mir die Filme von tunesischen Videokünstlern angesehen. Das fand ich großartig, und nach und nach habe ich ein geniales Paralleluniversum entdeckt. Gruppen und Filmemacher, die auf ihre Art Widerstand leisteten. Ich habe viele Tunesier entdeckt. Ich habe mir gedacht: Sie sind ja schon alle da, diese Oppositionellen. Wir wollen von dem Tunesien erzählen, wie es ist."

Ausgebrannte Ferraris als Skulptur

Von einem neuen Tunesien erzählt Faten Rouissi, die wohl beste bildende Künstlerin Tunesiens. Trotz ihrer Provokationen hat man sie unter Ben Ali in Ruhe gelassen, die Kunst nahm das Regime nicht sonderlich ernst. Und wer kommt auch schon auf die Idee, dass brennende Autos Skulpturen sind, also Kunst?

"Ich bin in den ersten Tagen nach der Revolution immer durch mein Viertel gegangen und habe mir angesehen, ob etwas zerstört oder verbrannt war, ich schrieb damals so etwas wie meine ganz persönlichen Nachrichten", erzählt Faten Rouissi. "Dann fand ich einen Haufen verbrannter Autos, das waren fürchterliche Bilder, aber auch sehr ästhetische Bilder. Diese Autowracks - für mich waren das sofort Skulpturen, Kunstwerke, die etwas aussagten über das Tunesien, in dem wir bisher gelebt hatten."

Es waren Porsches und Ferraris, die eigentlich dem Schwiegersohn von Ben Ali gehörten. Der hatte die exklusive Importlizenz und verdiente so an jedem Luxuswagen. Die Autos lagen damals im Hafen von Karthago, aber Jugendliche haben sie in ihrer Wut zerstört. Heute stehen die ausgebrannten Fahrzeuge auf einem öffentlichen Grundstück. Faten Rouissi begriff sofort, dass dies ihr Werk werden würde. Sie lud andere Künstler ein, die die Autos bemalten und mit Gedichten verzierten, es kamen Video- und Performancekünstler.

"Wir Künstler wollen jetzt nach draußen, in die Welt, in die Natur, in den Stadtraum", so Faten Rouissi. "Wir wollen nicht isoliert in unseren Ateliers bleiben. Wer das tut, hat nichts begriffen. Der öffentliche Raum gibt uns als tunesischen Künstlern ganz andere Möglichkeiten. Es geht darum, unser Land zu bauen - mit Farben und Formen, mit allen Tunesiern. Die Kunst muss die Dinge vorantreiben - das ist der neue Geist."

So wurde ein Schrottplatz zum Geburtsort einer neuen tunesischen Kunst, in der erstmals spartenübergreifend zusammengearbeitet wird. Tänzer machen mit, Musiker, Maler, Lichtdesigner. Die Riesenskulptur mit den verbrannten Autos ist heute ein Brennpunkt der Kultur in Tunesien.

Aufkommender Islamismus

Und doch: Noch ist nichts dauerhaft erreicht. Zeitweilig ist wieder eine Ausgangssperre verhängt worden in Tunis. Das zeigt, wie heiß die Befürchtungen hier immer noch sind. Und manche, wie der bedeutende Theatermann Fadhel Jaibi, einer der wichtigsten Sprecher der Revolution, sehen bereits neue Gefahren wie das Aufkommen des Islamismus:

"Was heute passiert, ist sehr beunruhigend. Wir haben einen Totalitarismus verjagt, jetzt entsteht möglicherweise gerade ein neuer. Wir haben in Tunis einen Kinosaal namens 'L'Africar', das von einem Freund und Kollegen geleitet wird. Vorletzten Sonntag wurde das Kino angegriffen, weil man einen religionskritischen Film zeigen wollte. Das hat die Islamisten verrückt gemacht. Sie haben das Kino attackiert, die Fassade zertrümmert, den Besitzer verprügelt und die Vorführung verhindert. Und das ist kein isolierter Akt. Sie haben auch schon Rechtsanwälte zusammengeschlagen, sie haben Sänger daran gehindert, Konzerte zu geben. Und sie gehen an die Strände, um die Frauen daran zu hindern, im Bikini zu baden. Sie hindern sogar die Familien daran, den Erfolg ihrer Kinder bei der Matura zu feiern. Die Islamisten sind dabei, ein Terrain durch Drohung und Gewalt abzustecken - das ist einfach unglaublich."

Der Kampf für die Demokratie ist also längst nicht gewonnen. Dennoch: Da ist immer noch die Begeisterung für die Revolution, die man fast überall spürt. Wissen Sie, fragt eine Frau in einem Buchladen, warum die Menschen immer die Nationalhymne singen, wenn sie auf Demonstrationen gehen? "Weil es die schönste Hymne der Welt ist. Und weil es darin heißt: Wenn sich das Volk erhebt, muss sich das Schicksal seinem Willen fügen."