Kafka vor Gericht

Der Prozess

"Was tust du da?", fragte mich ein Mann, der vorbei ging, und ich fragte mich das auch. Ich sagte: "Ich warte", und er ging weiter. Es war ein Freitag im Juni, ich saß in Tel Aviv vor einem Wohnhaus, sah zu, wie magere Katzen ihre Schwänze durch ein Balkongitter baumeln ließen, ich wartete auf Eva Hoffe.

Schon zwei Tage vorher war ich für zwei Stunden hier gewesen, ohne Erfolg, und hatte einen kleinen Zettel in ihren Briefkasten gesteckt. Mit einem kleinen Zettel hatte auch diese Geschichte ihren Anfang genommen, im Jahr 1924:

"Liebster Max, meine letzte Bitte: alles, was sich in meinem Nachlass an Tagebüchern, Manuskripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem usw. findet, restlos und ungelesen zu verbrennen (...) Dein Franz Kafka."

"Nationales Kulturerbe"

Ein kleiner Zettel war es auch, der mich nach Tel Aviv gebracht hatte, ein Zeitungsausschnitt: Kafka werde der Prozess gemacht, jetzt, 87 Jahre nach seinem Tod. Der Staat in Gestalt der israelischen Nationalbibliothek prozessiert gegen zwei Damen um die 80, die Erbinnen nach Max Brod. Eine davon: Eva Hoffe.

Die Erbinnen wollen den Brod-Nachlass nach Deutschland verkaufen. Israel beansprucht ihn als "nationales Kulturerbe" für sich. Eine der Damen lagere unentdeckte Kafka-Manuskripte in ihrer Wohnung voller Katzen, stand in dem Artikel. Und das Deutsche Literaturarchiv Marbach solle das Manuskript "Der Process" an Israel zurückgeben, um eine "historische Ungerechtigkeit" zu korrigieren.

Wem gehört Kafka?

In Tel Aviv fand ich mich in einer vielschichtigen und bizarren Geschichte wieder, die aus Kafkas Feder stammen könnte. Eine staatliche Institution prozessiert gegen zwei Bürgerinnen. Worum es in dem Verfahren geht, weiß niemand wirklich; der Inhalt des Brod-Nachlasses ist nicht zur Gänze bekannt. Die Motive der Beteiligten sind undurchsichtig. Von Max Brod selbst ist kaum die Rede. In den Medien geht es um die Frage: Wem gehört Kafka?

Kafka hat heute keine Identität mehr, weder geografisch noch politisch: geboren als Bürger des Habsburger Reiches, Träger eines österreichisch-ungarischen Passes, gestorben als Tscheche nahe Wien. Angehöriger der jüdischen Minorität in Prag, die es heute in der Form nicht mehr gibt. Geschrieben hat er auf Deutsch, literarisch ist er eine der Gründungsfiguren der deutschen Moderne. Über das Werk definiert, kann man nur sagen: Kafka gehört der Welt.

20.000 Seiten

"Das ganze Problem begann damit, dass Kafka seinem Freund Max Brod einige Manuskripte überlassen hat, an denen er kein Interesse mehr hatte, weil er wusste, dass er sie nicht zu Ende führen wird können. Zum Beispiel den Roman 'Der Process'", sagt der Kafka-Biograf Reiner Stach. Mit dem Manuskript von "Der Process" und anderen Werken Kafkas floh Max Brod 1939 von Prag nach Palästina.

Dort entstand das zweite Problem: Brod schenkte seiner langjährigen Mitarbeiterin Ilse Esther Hoffe einige Autographe von Kafka, unter anderem 'Der Process', und machte sie zur Alleinerbin seines Nachlasses - 20.000 Seiten Papier, Briefe, Tagebücher, einige weitere Manuskripte und Zeichnungen von Kafka. Sein Testament ist allerdings vage und widersprüchlich.

Nicht ins "Land der Täter"

Esther Hoffe verkaufte nach und nach. "Der Process" wurde 1988 versteigert - das Marbacher Archiv erhielt den Zuschlag. Als sie 2007 starb, wollten ihre Töchter das Erbe antreten und den Nachlass an das deutsche Literaturarchiv verkaufen. Die israelische Nationalbibliothek begann den Prozess.

Der Nachlass sei "nationales Kulturerbe", lautet ein Argument. Ein anderes: Die Werke des jüdischen Schriftstellers Brod, der vor den Nazis fliehen musste, sollen nicht im Land der Täter landen.

In einer weiteren Rolle sieht sich die israelische Nationalbibliothek als Verteidigerin von Brods letztem Willen.

Ein "liederliches Verfahren"

Eva Hoffe wurde von Journalisten belagert, ihre Telefonate wurden abgehört, sie meldete zwei Einbruchsversuche. Und ich saß da und wartete auf sie vor ihrem Wohnhaus in Tel Aviv und wartete dann noch ein drittes Mal, an einem Samstag, dem letzten Tag der Reise, und klopfte wieder an...

"Ich sage nicht, dass es ein liederliches Verfahren ist, aber ich möchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben", schrieb Kafka in "Der Process".

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S. Fischer - Franz Kafka