Opposition nach Wahlfälschungen wachgerüttelt
Großdemos beenden Polit-Lethargie
Die Großdemonstrationen in Moskau und mehr als 100 anderen Städten haben das politische Leben in Russland schlagartig aus dem jahrelangen Tiefschlaf geweckt. Bis zu 100.000 Menschen waren auf den Straßen, um gegen die Fälschungen bei der Parlamentswahl zu protestieren. Wie es weitergeht ist unklar, denn weder der Kreml noch die Opposition haben diese Entwicklung vorhergesehen.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 12.12.2011
Aus Moskau,
Aus Tiefschlaf aufgewacht
Russland an diesem Montag ist ein anderes Land als vergangenen Freitag, soweit sind sich die Kommentare in den heutigen Zeitungen einig. Die Großdemonstration am Samstag hat das politische Leben, das jahrelang im künstlichen Tiefschlaf gehalten wurde, aufgeweckt. Doch niemand weiß so recht, wohin die Reise geht sagt der Journalist und Buchautor Andrei Soldatov:
„Seit September sehen wir dass der politische Aktivismus immer stärker wird und der Kreml hat keine Strategie, wie er damit umgehen soll. Sie sind in diese Situation eher hineingestolpert weil sie am Ende doch nicht bereit waren, die Demonstrationen gewaltsam aufzulösen. Die Frage ist jetzt, wie die Demonstration in zwei Wochen sein wird und wie es danach weitergeht“.
Strategie noch Mangelware
Erste Zeichen des Wandels sind bereits sichtbar: Der langjährige Finanzminister und Putin-Vertraute Alexei Kudrin hat heute früh erklärt, er sei bereit in einer liberalen Partei mitzuarbeiten, die gegen die Regierungsparte Einiges Russland arbeite. Aber nicht nur der Kreml, auch die Gegenseite hat keine Strategie. Außer der Gegnerschaft zu Putin gibt es keinen gemeinsamen Nenner, es gebe auch keine Führungspersonen. Zu den alten Anführern der Opposition - Nemzow, Jawlinski, Sjuganov - hätten die Demonstranten genauso wenig Vertrauen wie zu Putin selbst:
„Die Leute bei der Demonstration sind gut angezogen, haben I-Pads und schauen aus wie junge Leute in Westeuropa oder den USA. Aber sie haben praktisch keine politische Kultur. Nach zehn Jahren ohne Politik sind sie nicht in der Lage, auch nur einfache Themen abstrakt abzuhandeln, sie verstehen nur einfache Lösungen. Und daher können sie leider leicht manipuliert werden“.
Machtfaktor Internet
Noch sei unklar, wie sich die verschiedenen Interessensgruppen in den nächsten Wochen verhalten werden. Der Geheimdienst werde sich eher zurückhalten, glaubt Soldatov der erst vor kurzem ein Buch über den FSB herausgebracht hat, der Dienst sei in sich politisch gespalten. Eine größere Rolle werde das Innenministerium und die gut ausgebildete Einsatzpolizei spielen:
„Worüber wir im Moment überhaupt nichts wissen sind die Oligarchen, die großen Geschäftsleute. Klar ist, dass sie ihre Abmachungen mit dem Kreml gerade überdenken. Diese Verhandlungen laufen gerade, allerdings hinter verschlossenen Türen. Und diese Gruppe ist besonders wichtig: Sie hat Geld, sie hat große intellektuelle Ressourcen und sie ist bereit ihre Interessen aktiv zu verteidigen“.
Im Moment sei es praktisch unmöglich vorherzusehen, wohin sich das Land entwickle und es sei auch nicht klar, ob der Kreml die Entwicklungen kontrollieren, geschweige denn lenken könne. Die Menschen würden sich nicht mehr über die traditionellen Medien wie Fernsehen oder Zeitungen informieren, sondern praktisch ausschließlich über das Internet, das von der Regierung nicht kontrolliert werden könne. Wie ratlos der Kreml dem gegenübersteht zeigt sich an der gestrigen Ankündigung von Präsident Medwedew, einen kleinen Teil der Wahlergebnisse zu überprüfen. Sie erfolgte nicht im Fernsehen, oder über eine Presseaussendung. Sondern ausschließlich über das Internetportal Facebook.