"Europas Schande"

Neues Grass-Gedicht - zu Griechenland

Er hat es wieder getan: Der deutsche Literaturnobelpreisträger Günter Grass (84) hat ein Gedicht zu einem aktuellen Thema der Tagespolitik verfasst. Diesmal ist Europa und seine Haltung in der griechischen Schuldenkrise das Thema, und der Titel "Europas Schande" zeigt schon eindeutig die Stoßrichtung der Vorwürfe.

Morgenjournal, 26.5.2012

Aus Berlin berichtet Peter Fritz.

"Dem Chaos nah"

Im altgriechischen Sängerton eines Homer gehalten, aber völlig frei vom Göttergelächter, das jener zu schildern verstand, baut Günter Grass sein neues Gedicht auf, das in der Süddeutschen Zeitung zu lesen ist. Schon die erste Zweizeilenstrophe drückt vieles von dem aus, was Grass in die Debatte wirft:

"Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht
Bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh"

"Nackt am Pranger"

Europa also, so stellt es Günter Grass dar, hätte ausgerechnet jenes Land im Stich gelassen, dem es sein geistiges Erbe und die Ideen der Demokratie verdankt - Griechenland. Wenn sich Europa öffentlich auf dieses Erbe berufen sollte, dann nur noch aus Heuchelei, so lässt es Grass in Strophe drei antönen:

"Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land,
dem Dank zu schulden Dir Redensart war."

"Geistlos verkümmern wirst Du"

Mit der Anspielung auf Hölderlin im Tornister kommt Grass auf die deutsche Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg zu sprechen, auch die griechische Militärdiktatur, die Europa bis in die Siebzigerjahre hinein toleriert hätte, lässt Grass nicht aus, um dann zum Fazit zu kommen :

"Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land,
dessen Geist Dich, Europa, erdachte."

Melancholie statt Protest

Dem Genre politische Lyrik bleibt Günter Grass also treu. Mit seiner letzten Politdichtung, vor knapp zwei Monaten ebenfalls in der Süddeutschen, hatte er Proteststürme ausgelöst, weil er Israel Aggression gegenüber dem Iran vorwarf. Der Proteststurm in Europa gegen die die neuen, viel melancholischeren Worte von Günter Grass, dürfte sich dagegen in wesentlich engeren Grenzen halten.

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Süddeutsche Zeitung Gedicht von Günter Grass zur Griechenland-Krise