Erdogan empört mit Armenien-Kurs
99 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern in Anatolien hat Ministerpräsident Erdogan gestern mit einer unerwarteten Erklärung für Aufsehen gesorgt: Im Namen des türkischen Staates drückte er den Enkelkindern der armenischen Opfer sein Beileid aus. In der Türkei hat dieses Statement heftige Diskussionen ausgelöst. Denn die Massaker der osmanischen Armee an armenischen Zivilisten sind für viele Türken immer noch Tabu.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 25.4.2014
Aus Istanbul,
Gedenktag für die Opfer
Neunundneunzig Jahre sind seit der Vernichtung der armenischen Bevölkerung Anatoliens vergangen, und immer noch spaltet dieses Verbrechen die türkische Gesellschaft. Am gestrigen Gedenktag für die Opfer war diese Kluft mitten in Istanbul zu spüren.
Etwa tausend Menschen hatten sich in der Istiklal-Straße versammelt, um mit Fotos und Kerzen an das zu erinnern, was für sie nur einen Namen verdient: Völkermord. Etwa eine Million Armenier, möglicherweise auch eineinhalb Millionen, wurden bei Todesmärschen in die Wüste und bei Massenerschießungen getötet.
Doch während der Trauerfeier waren im Hintergrund Sprechhöre zu hören, die eine andere Version der Geschichte verkünden. Türkische Nationalisten bezeichnen den Völkermord als Lüge, von der armenischen Lobby und westlichen Imperialisten in die Welt gesetzt.
Großer Schritt Erdogans
Dieses Jahr sind die Nationalisten besonders wütend. Denn Ministerpräsident Erdogan hat in einer überraschenden Erklärung das Leid der armenischen Bevölkerung angesprochen und den Nachkommen der Opfer sein Mitgefühl ausgedrückt. Seine Erklärung wurde in acht Sprachen veröffentlicht, darunter auch auf Armenisch.
Das hat noch kein türkischer Politiker getan. Die massenhafte Vernichtung von Frauen und Kindern, Alten und Jungen, wird in türkischen Geschichtsbüchern entweder verschwiegen oder als Notwehrreaktion dargestellt. Die Truppen des untergehenden osmanischen Reiches seien selbst von armenischen Freischärlern angegriffen worden, so die bisherige türkische Version.
Auch Ministerpräsident Erdogan hat das Wort Völkermord vermieden, jenes Wort, das die heute über die ganze Welt verstreuten Armenier hören wollen. Und Erdogan hat auch davor gewarnt, das Leiden der Armenier gegen die Türkei politisch auszuschlachten. Und doch ist er einen großen Schritt auf die Armenier zugegangen, und hat damit wieder einmal für Schlagzeilen gesorgt.
Warten auf Taten
Die Oppositionsparteien wirken geschockt. Der Chef der Ultranationalisten Bahceli sagt, Erdogan habe in Wirklichkeit den Völkermord eingestanden. Und das wäre inakzeptabel. Und auch der größten Oppositionspartei CHP fällt nichts anderes ein, als den Regierungschef in einer Weise zu kritisieren, die dieser als Kompliment auffassen kann: Erdogan habe mit seiner Erklärung nur das angekratzte Image der Türkei aufpolieren wollen.
Tatsächlich bleibt abzuwarten, welche Taten auf Erdogans unerwartete Worte folgen werden. Schon mehrmals hat er Minderheiten gegenüber Zugeständnisse angekündigt und bei nächster Gelegenheit wieder zurück genommen. In einem Jahr wird weltweit der hundertste Jahrestag des großen Massakers begangen: Dann wird von der türkischen Regierung mehr erwartet als nur eine Geste.