Odessa - eine Stadt im Schockzustand

2. Mai - das Gewerkschaftshaus von Odessa, in das Anhänger der prorussischen Seite geflohen waren, wurde mit Molotowcocktails beschossen, das Haus fing Feuer, 38 Menschen verbrannten. Die Umstände sind noch immer ungeklärt. Für die Menschen im sonst lebenslustigen Odessa war das großer Schock, die Präsidentenwahlen im Sonntag werden mit gemischten Gefühlen betrachtet.

Mittagsjournal, 20.5.2014

Eine Reportage aus Odessa von

Wer zahlt dafür?

Sie gilt als eine der schönsten und weltoffensten Städte der Ukraine – die Schwarzmeerstadt Odessa mit ihren etwa 1 Millionen Einwohnern. Über Jahrhunderte hinweg - ein buntes Völkergemisch, eine Stadt, die sich immer als tolerant verstanden hat. Und ausgerechnet in Odessa ereignete es am 2. Mai eine der bisher blutigsten Tragödien in der Ukraine.

Das Gewerkschaftshaus liegt nahe dem historischen Stadtzentrum von Odessa – das Gebäude ist zum Teil verkohlt, zerbrochenes Glas von den eingeschlagenen Fensterscheiben liegt herum. Blumen und Kerzen säumen den Weg ins Gebäude hinein. Im Haus drinnen Schutt, Ruß und Brandgeruch. Manche Räume haben nur wenig vom Feuer abbekommen. Hier prangt an den Wänden eine Aufschrift: "Odessa ist russisch."

Immer wieder kommen Menschen hierher, auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: wie war das überhaupt möglich? Ein Pärchen bewegt sich vorsichtig durch den Schutt: "Er wollte unbedingt hierherkommen um sich den Schauplatz der Tragödie anzusehen", sagt der junge Mann, der wie die meisten hier seinen Namen nicht nennen möchte. Er wolle einfach mit eigenen Augen sehen, um das alles zu begreifen. "Warum ist die Polizei nicht eingeschritten", wirft seine Freundin ein. "Die Polizei hätte beide Seiten auseinanderhalten, stoppen müssen." Dass dies ausgerechnet in Odessa passiert, verstehen die beiden überhaupt nicht: Die Stadt sei dafür bekannt, dass die tiefsten ideologischen Gräben mit Humor überwunden werden. Maidan und Anti-Maidan sind hier friedlich nebeneinander verlaufen. Und jetzt das?

Draußen auf dem Platz vor dem Gewerkschaftshaus sind Plakate aufgestellt: "Ihr werdet dafür bezahlen". - Doch wer? Prorussische und proukrainische Gruppen bezichtigen einander gegenseitig für den Tod der 38 Menschen in dem Gebäude verantwortlich zu sein. Eine offizielle Untersuchungskommission wurde nun zwar eingerichtet. Doch ob das Ergebnis anerkannt wird? Die Menschen sind sehr misstrauisch gegenüber offiziellen Wahrheiten geworden. Und so versucht jeder für sich seine eigene Wahrheit zu finden.

(Keine) Erwartungen an die Wahl

Mit manchmal krausen Ideen von Weltverschwörung und dem Kampf der Zivilisationen Ost und West. Immer wieder gibt es da heftige Diskussionen auf dem Platz vor dem Gewerkschaftshaus: "Das waren die Faschisten", sagt ein älterer Mann im Vorbeigehen. Etwas abseits betrachtet eine junge Frau sichtlich betroffen die Bilder der Toten. Sie finde gar keine Worte dafür. Schuld sind für sie "die in Kiew", sagt sie. Und deshalb werde sie auch nicht zu den Wahlen am Sonntag gehen.

Ganz anders sieht dies eine Frau daneben: "Die Toten nutzen der russischen Propaganda, sagt sie. "Russland und Putin lassen uns einfach nicht in Ruhe. Es gibt Unterschiede zwischen der Westukraine und der Ostukraine, doch warum sollen wir nicht in einem Land zusammenleben können", fragt sie. Von den Präsidentenwahlen am kommenden Sonntag erhofft sie sich eines – Beruhigung. "Wir müssen uns endlich normal entwickeln können, in Richtung Europa. Nicht dass es dort so toll wäre, ihr habt auch eure Probleme", sagt sie. "Aber endlich ohne Korruption und mit funktionierenden Gesetzen leben – menschenwürdig leben", betont sie. "Nicht so wie unter Janukowitsch: Wo die einen goldene Toiletten haben, während die anderen fast verhungern."