"Im Ö1-Journal zu Gast"

Kern: Bewegung in der Flüchtlingsfrage

Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) spricht nach dem gestrigen EU-Gipfel in Bratislava von einem Kampf um kleine Fortschritte. Er verlangt eine grundlegende Reform der EU, um Entscheidungsprozesse zu beschleunigen. Über die Verteilung von Flüchtlingen sei nicht geredet worden, erstmals hätten die osteuropäischen EU-Staaten aber ein gewisses Problembewusstsein angedeutet, so Kern in der Ö1-Reihe „Im Journal zu Gast“.

Mittagsjournal, 17.9.2016

Bundeskanzler Kern im Gespräch mit

Christian Kern

APA/GEORG HOCHMUTH

Der gestrige EU-Gipfel in Bratislava könnte eine immer wiederkehrende Debatte erneuern. Die, ob ein Glas nun halbvoll oder halbleer ist. Außengrenzen sichern, lautet ein Ergebnis des Treffens, ein anderes umfasst einen Fahrplan für Künftiges. Mehr als ein Minimum an Übereinstimmung gibt es im Moment innerhalb der Europäischen Union allem Anschein nach nicht. Angela Merkel und Francois Hollande streichen für Deutschland und Frankreich das Gemeinsame hervor, der Ungar Viktor Orban nennt Trennendes, und der Italienische Regierungschef Matteo Renzi sagt: das reicht nicht. Und der österreichische Bundeskanzler? Er spricht von einem Kampf um Fortschritte.

Versäumnisse der EU

Das EU-Gipfeltreffen in Bratislava habe keinen großen Durchbruch gebracht, aber es sei ein Schritt gewesen auf einem weiteren Weg, das sagt Österreichs Bundeskanzler Christian Kern zum gestrigen Treffen der EU-27 ohne Großbritannien. Die Probleme allerdings seien drängend. „Es ist ein Kampf, um kleine Fortschritte, bei Themen wie Migration, Sicherheit und Wirtschaftswachstum. Jetzt merken wir, dass uns Versäumnisse der Vergangenheit einholen in dieser krisenhaften Situation,“ so Kern. Die EU habe sich nicht rechtzeitig auf die großen Erweiterungsrunden und auf die Euro-Einführung vorbereitet, um handlungsfähig zu bleiben. „Dass die EU eine grundsätzliche Überholung ihrer Institutionen und Entscheidungsmechanismen braucht, das steht fest. Die Frage wird man klären müssen, weil sich sonst dauerhafte Probleme nicht lösen lassen.“ Alternativen zur EU gebe es aber keine. Es müsse möglich sein, gemeinsam und solidarisch zu handeln.

Bewegung der Visegrad-Länder

Zur europäischen Flüchtlingspolitik meint Kern, auch hier gebe es Versäumnisse der EU, ihre Außengrenzen zu sichern. Man habe mit dem Binnenmarkt die Freizügigkeit nach innen geschaffen, aber die Grenzen vergessen. Jetzt, wie in Bratislava geschehen, darauf zu drängen, sei ein großer Fortschritt und hier gehe es nicht um einen Festungsbau.

Über die Verteilung der Flüchtlinge in Europa wurde in Bratislava nicht geredet. Hier sind die osteuropäischen Länder nach wie vor dagegen. Aber es sei gestern das erste Mal angedeutet worden, dass es doch ein Einverständnis geben könnte. Konkret: „von der Visegrad-Gruppe gab es unter dem diplomatischen Begriff „flexible Solidarität“ die ersten Anzeichen, dass sie sich bewegen“. Hier müsse man noch weiter Druck machen, sagt Kern. Generell meint der Kanzler, es müsse klar sein, dass Europa Solidarität üben müsse. Man könne nicht nur Vorteile konsumieren, denn dann funktioniere das Konzept der Europäischen Union nicht.

Verständnis zeigt Kern für Italiens Premier Renzi, wenn dieser gestern erbost gesagt habe, die Ergebnisse würden nicht reichen. Italien sei in der Migrationsfrage, im Wirtschaftsbereich, sprich Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum - massiv betroffen. Jetzt müssten konkrete Fortschritte und Lösungen erbracht werden. Deklarationen und Kommuniqués würden nicht mehr reichen. Hier seien klare Konzepte zur Hilfe in Nordafrika gefragt, sonst würden immer mehr Menschen nach Italien kommen und das italienische Problem werde immer mehr zum europäischen Problem.

Hält an Koalition fest

Zur jüngsten Debatte über seine wirtschaftspolitischen Konzepte für Europa, die er in der deutschen FAZ erörtert hat, zeigt sich Kern ziemlich ungehalten. Hier habe man versucht, ihn in eine links linke Ecke zu treiben mit der Verkürzung auf ‚Schuldenmachen‘. Das sei völliger Unsinn. Hier gehe es darum, Kompetenz zu hinterfragen, jemanden zu kritisieren. Offenbar hätten manchen seine guten Umfragewerte nicht gepasst, mutmaßt der Kanzler. Das sei jedenfalls „schlechter Mechanismus in der Politik, besonders schlechter Mechanismus innerhalb einer Koalition“.

Von vorgezogenen Neuwahlen will Kern nichts wissen, auch wenn SPÖ und ÖVP sich teils in einer Phase "sinnloser Diskussionen, die nur an der Oberfläche kratzen" befänden. Man habe aber ein großes Aufgabenpaket vor sich und auch schon vieles abgearbeitet. Bei Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner ortete Kern den entsprechenden Willen dazu. "Wenn es ins Konkrete geht, sieht man, dass noch viel möglich ist."