Publikum im Kinosaal

APA/HERBERT NEUBAUER

Filmkolumne

Der Kinoneurotiker

Wahrscheinlich jede Kinobesucherin und jeder Kinobesucher hat es schon einmal ertragen müssen: laute Sitznachbarn, die einen entspannten Filmgenuss unmöglich machen. Kino ist ein Gemeinschaftserlebnis, und manche Filme funktionieren und wirken ganz anders, wenn man sie anstatt allein im Heimkino, zusammen mit anderen im Kinosaal sieht. Von einer solchen Erfahrung und von nervigen Geräuschkulissen vor der großen Leinwand handelt die heutige Filmkolumne.

Ja, zugegeben: Ich bin leicht neurotisch, wenn es um das Schmatzen, Schmusen, Tratschen im Kinosaal geht. Sitznachbarn in quietschenden Daunenjacken, die lautstark lachen, weinen, seufzen. Oder am besten gleich Diskutieren, über das, was sie gerade auf der Leinwand gesehen oder auch nicht gesehen haben, weil ja gerade mit ihrem Smartphone beschäftigt. Mit ihrem Smartphone. Und dazu vielleicht auch noch ganz dezent Popcorn kauen. Warum eigentlich ausgerechnet Popcorn im Kino?

Die Amerikaner sind schuld

Schon 1848 wurde Popcorn als snack food in das "Dictionary of Americanisms" aufgenommen. Gut 70 Jahre später, in den eleganten Lichtspielhäusern der 20er Jahre waren die erhitzten Maiskörnderl dann noch verpönt, aber nach der Wirtschaftskrise 1929 zog mit dem Tonfilm auch eine breitere Publikumsschicht in die Kinos ein. Popcorn war beliebt, billig herzustellen, eine zusätzliche Einnahmequelle für die Betreiber. 1945 aßen die Amerikaner dann dreimal so viel Popcorn wie noch zu Kriegsbeginn, die Hälfte davon im Kino, wo es auch familientauglich beworben wurde.

Trockenschwimmen

Und mit dem globalen Siegeszug von Hollywood, kam dann auch das Popcorn … Jedenfalls: Als Filmjournalist ist man in dieser Hinsicht verwöhnt. Pressevorführungen finden meist Tage oder Wochen vor dem regulären Kinostart in fast leeren Kinosälen und ohne Popcorn statt. Vom Print-Kollegen, der sich gerne die Schuhe auszieht, kann man sich weit genug weg setzen. Von den Pressevorführungstouristen bei Blockbuster-Filmen sowieso.

Verglichen mit dem realen Dschungel des regulären Kinoabends ist eine Pressevorführung also quasi Trockenschwimmen. Und es gibt Filme, die lassen sich vom Beckenrand aus - in aller Ruhe - viel besser genießen. Aber es gibt auch die, die ohne einzutauchen, so gar nicht funktionieren. Kinderfilme ohne Kinder etwa, quasi alkoholfreies Bier. Mag zwar ähnlich schmecken, aber die Wirkung ist definitiv eine andere.

Gleicher Film, andere Wirkung

Und das gilt nicht nur für Kinderfilme. Ich war vor kurzem wieder einmal schwimmen, im Wasser, Sitzplatzzwang bei einem Dokumentarfilm, den ich schon zwei Tage vorher in einer Pressevorführung gesehen hatte. Staubtrocken erzählt, handwerklich schlampig. Noch einmal anschauen? Wenn's sein muss.

Im Kinosaal wurde geschmatzt. Popkorn-kauende Sitznachbarn in quietschenden Daunen … nein Kunstlederjacken. Und dann ein Lacher, zwei. Ein Kommentar vom Sitznachbarn meines Sitznachbarn: Und er hatte recht. Der Film war immer noch der gleiche, aber die Wirkung war eine andere. Das Kino ist nicht nur Filmtempel, Lachen bisweilen doch ansteckend.

Kinoneurotiker, traut euch

"Das Lachen gehört zu den im hohen Grade ansteckenden Äußerungen psychischer Zustände", schrieb Sigmund Freud schon im Jahr 1905. Laut wissenschaftlichen Studien stellt diese emotionale Ansteckung im Gehirn einen vollständig automatisierten Prozess dar, das Frontalhirn fungiert dabei vermutlich als Regulator von Emotionsinformationen. Und das gilt nicht nur fürs Lachen. Widerstand quasi zwecklos.

Deshalb, liebe Kinoneurotiker da draußen, mit euren wasserdichten Heimkinos: Traut euch, ärgert euch nicht. Außer es wird zu laut geschmatzt, geschmust, getratscht. Außer es sind zu laut Popkorn-kauende Nachbarn, die zu laut weinen, seufzen, lachen. Dann liebe Kinoneurotiker: wehret euch.

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