Olga Tokarczuk

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Man Booker Prize

Tokarczuks "Unrast" - Vom modernen Nomadentum

Die mehrfach preisgekrönte polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk erhält den Man Booker International Prize 2018 für ihren Roman "Flights", der unter dem deutschen Titel "Unrast" erschienen ist.

Kulturjournal | 23 05 2018

Judith Hoffmann

Der seit 2005 vergebene Preis würdigt ein herausragendes fremdsprachiges Werk, das ins Englische übersetzt wurde. Das Preisgeld von 50.000 Pfund (57.000 Euro) wird traditionell zwischen der Autorin und ihrer US-amerikanischen Übersetzerin Jennifer Croft aufgeteilt.

Jury lobt "Witz und literarische Ausdruckskraft"

Die Jury würdigte Tokarczuk bei der Preisverleihung als eine Autorin mit "wunderbarem Witz, Vorstellungs- und literarischer Ausdruckskraft". Schon 2007 hatte Tokarczuk das Werk verfasst und dafür den höchsten polnischen Literaturpreis erhalten. Die preisgekrönte englische Übersetzung bringt neben dem Preisgeld wohl auch eine erhebliche Erweiterung des Lesepublikums.

"Lasst stehen und liegen, was Ihr besitzt, verlasst Euren Grund und Boden und setzt Euch in Bewegung." So lautet ein Satz aus Olga Tokarczuks Roman "Unrast", ausgesprochen vom Guru einer orthodoxen Sekte. Und die Figuren der weit verzweigten Handlung scheinen ihm kompromisslos zu folgen, getrieben von einer unbändigen Rastlosigkeit. "Ich wollte nie klassische Reiseliteratur oder einen Reisebericht schreiben, davon gibt es schon mehr als genug", so die Autorin.

Die literaturgewordene Rastlosigkeit

Viel mehr schwebte der studierten Psychologin und Psychotherapeutin eine literarische Untersuchung des gegenwärtigen Reiseverhaltens vor. "So wie heute sind wir noch nie gereist in der Menschheitsgeschichte. Wir springen wie mit Sieben-Meilen-Stiefeln in rasantem Tempo von Ort zu Ort, was auch die Psyche der Reisenden stark beeinflusst."

Tokarczuk unternimmt in ihrem Roman daher gleich zwei Reisen: eine nach außen, in die große weite Welt, basierend auf ausgedehnten eigenen Recherchereisen rund um den Globus, und eine ins Innere der menschlichen Psyche, auf der Erkundung des gegenwärtigen Körperkults und der steten menschlichen Sehnsucht nach dem Neuen und Unbekannten.

Die Crux mit dem unbekannten Bekannten

Doch gerade diese Sehnsucht werde von einem Ort beständig enttäuscht: dem Flughafen. "Wenn wir ankommen, erwarten wir immer einen völlig anderen Ort vorzufinden als den, den wir gerade hinter uns gelassen haben. Das ist ja scheinbar die Essenz des Reisens. Aber Flughäfen sehen rund um die Welt gleich aussehen, egal ob in Kuala Lumpur, New York oder Amsterdam. Nur unser Gehirn sucht sie fieberhaft nach Unterscheidungsmerkmalen ab", so Tokarczuk.

Der Flughafen wird daher zum Ruhepol, um den die Geschichten in Tokarczuks Roman kreisen. Geboren 1962 in einem der ehemaligen Ostblock-Staaten, wuchs die Schriftstellerin selbst mit einem latenten Gefühl der Eingeschlossenheit auf, wie sie sagt. Dem neuen Freiheitsgefühl nach der Wende steht im Roman das Gefühl der Entwurzelung gegenüber, das sich über die einzelnen Mikroerzählungen legt.

Ein Füllhorn an kleinen erzählerischen Puzzleteilen

Denn - und das ist einer der spannendsten Aspekte an Tokarczuks Roman - die Autorin verpackt ihre Betrachtungen über das Reisen in kleinteilige Episoden und Begegnungen. Unter den Reisebericht der Ich-Erzählerin mischen sich mystische Geschichten und historische Begebenheiten, die zum Teil bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, aber auch Reflexionen über das, was von den flüchtigen Reiseeindrücken hängenbleibt: im Fotoalbum, im Gedächtnis und im Herzen.

Olga Tokarczuk: "Ich denke vor jedem neuen Roman sehr lange über seine Struktur nach. Diesmal sollten die Geschichten über das Reisen formal dem Reisen ähneln. Unser Reiseprozess ist ja nicht linear, wir springen von einem Ort zum nächsten, besuchen manche Orte noch einmal und erinnern uns an Orte, an denen wir schon waren."

So liefert sie auf weit über 400 Seiten eine Fülle von Geschichten, die wie durch innere Haken und Schrauben miteinander verbunden sind, aufeinander Bezug nehmen und eine lustvolle literarische Landkarte äußerer und innerer Reiserouten darstellen.

Service

Olga Tokarczuk, "Unrast", Roman, aus dem Polnischen von Esther Kinsky, Verlag Schöffling & Co.
Originaltitel: "Bieguni"

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