Buch des Monats

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Juli

Ralph Ellison, "Der unsichtbare Mann"

1951 ist der Roman des Musikers Ralph Ellison erstmals erschienen und musikalisch ist seine gesamte Struktur.

Zugleich ist es ein hochpolitisches Buch, es handelt von Rassismus, Unterdrückung, undurchlässige soziale Strukturen, aber auch von Strategien der Befreiung.

Ich bin ein wirklicher Mensch, aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit - und man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich Verstand habe. Aber trotzdem bin ich unsichtbar - weil man mich einfach nicht sehen will.

So stellt sich der namenlose Erzähler in Ralph Ellisons Roman "Der unsichtbare Mann" gleich auf der ersten Seite vor. Es ist das Resümee seiner wechselvollen, ebenso abenteuerlichen wie beklemmenden Odyssee durch die amerikanische Gesellschaft. Der Erzähler ist ein junger Schwarzer, der seine Laufbahn als hoffnungsvoller College-Student begann. Nun aber lebt er in einem Kohlenkeller. Das ist der symbolisch besetzte Ort seiner Selbstaufklärung, an dem er die gescheiterten Versuche, sich als Mensch in der Gesellschaft zu behaupten, Revue passieren lässt.

Keine Autobiografie

Der Roman, der heute als Klassiker der schwarzen, afroamerikanischen Literatur gilt, hat zwar deutliche Anklänge an Dostojewskijs "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" - anstelle der paranoiden Selbstbezichtigungen des fortschrittsfeindlichen Russen aus dem 19. Jahrhundert ist in Ellisons Beschreibung des schwarzen Amerika der 1930er Jahre der Kampf um Gleichberechtigung getreten. Inklusive sämtlicher Irrungen und Wirrungen dieses Kampfes. Nach der Weltwirtschaftskrise stehen Rassenunruhen auf der Tagesordnung.

Ralph Ellison betonte zwar immer wieder, "Der unsichtbare Mann" sei nicht autobiografisch, dennoch verläuft der Entwicklungsroman aus dem Geist des Harlemer Existenzialismus entlang der Lebensgeschichte seines Verfassers. Ein junger schwarzer Amerikaner besucht mit Stipendium ein College im Süden des Landes und bricht unfreiwillig nach New York auf.

Ausholender Epiker

In der Eingangsszene findet ein bizarrer Boxkampf statt. Den Kämpfenden wurden die Augen verbunden; eine nackte Tänzerin bewegt sich durch den Raum. Am darauffolgenden Tag soll der Erzähler einen Geldgeber des Colleges durch den Campus chauffieren: er rülpst lautstark, kann das Rülpsen gerade noch durch lauteres Hupen übertönen.

Mister Norden, der Besucher wird peinlich genau beschrieben; noch ausladender, geradezu barock, die an den Campus grenzenden Slums, in die die Exkursion zufällig gerät: bei der Erzählung eines Farmers vom Inzest mit seiner Tochter verschlägt es dem Honorablen die Rede, in der darauffolgenden Striptease-Spelunke fällt er in Ohnmacht.

Ralph Ellison nimmt sich in seine Schilderungen alle Zeit eines weit ausholenden Epikers - allerdings wird unter der Hand rasch klar, was es mit der "Unsichtbarkeit" seines Erzählers auf sich hat: Er hat sich angepasst und - er hat Angst vor den Weißen.

Bruderschaft

Ralph Ellison beschreibt ein quirliges, vor Leben strotzendes Harlem im Winter - im einzigen idyllischen Moment des 700-Seiten-Romans wird der Erzähler beim Essen einer gebratenen Yams-Wurzel von Heimweh übermannt. Im selben Moment tragen zwei weiße Mieteneintreiber eine alte Frau auf ihrem Fauteuil von über die Straße. Es folgen Murren, Protestschreie, Polizeieinsatz. Während der folgenden wilden Verfolgungsjagd über die Dächer tritt - ganz Deus ex machina - ein gewisser Jack auf den Plan. Er wird den Erzähler für seine Bruderschaft gewinnen.

Bei besagter Bruderschaft handelt es sich um die Kommunistische Partei Amerikas (die nie bei diesem Namen genannt wird) - der Erzähler wird für sie als Redner und Aktivist auserkoren. In der Welt von Harlem müsse es einen Wandel geben - so die Botschaft der Bruderschaft - und dieser muss vom Volk ausgehen.

Kafka in Harlem

Ralph Ellison beschränkt sich in seinem Roman nicht auf parteipolitische Querelen - die Dispute der Bruderschaft geraten oft grotesk und skurril; beginnt sich der Erzähler in Schwadronieren über "abstrakten Humanismus" zu verheddern, weiß der Autor längst, dass jetzt eine Affäre seines Protagonisten mit der Ehefrau eines Vorgesetzen der Bruderschaft angesagt ist. Versteigt er sich zu allzu bedeutungsschwerem Symbolismus, wird sogleich mit einem Wortspiel wie jenem über "class struggle" und "ass struggle" Abhilfe geschaffen.

Der Schluss kehrt zum Anfang zurück: "Ich bin ein unsichtbarer Mann." An den Leser, an die Leserin gewandt, heißt es noch: "Wer weiß schon, dass ich, auf niedriger Frequenz, auch für Sie spreche?" Das klingt schon nicht mehr nach schwarzer Revolte, sondern vielmehr nach Franz Kafka. Ralph Ellisons "Der unsichtbare Mann" ist zweifellos ein Meisterwerk - an seine besten Stellen ist es, als wäre Kafka in Harlem gestrandet.

Text: Erich Klein

Service

Ralph Ellison, "Der unsichtbare Mann" (Übersetzung: Georg Goyert), Aufbau Verlag
Originaltitel: "Invisible Man"