Jolanda Spiess-Hegglin

GIAN MARCO CASTELBERG

Schweizer Medienaffäre

Eine Frau allein gegen den Boulevard

#doublecheck hat sich den Fall der Schweizer Ex-Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin angesehen, die nach einer Vergewaltigung unter ungeklärten Umständen zum Medienopfer und zur Hass-Zielscheibe geworden ist. Spiess-Hegglin wehrt sich und will bis zum Äußersten gehen: Sie wird den Boulevard-Riesen "Blick" aus dem Ringier-Verlag wegen Persönlichkeitsverletzung auf Herausgabe des Gewinns klagen, den die Zeitung mit vielfach erfundenen Geschichten über ihre Person gemacht hat. Das wäre ein medienrechtlicher Meilenstein.

Am Heiligen Abend 2014 erschien der erste Artikel im "Blick", einer großen Schweizer Boulevardzeitung. Eine sogenannte Sexaffäre, an der eine Politikerin der Grünen und ein Politiker von der rechtspopulistischen SVP beteiligt sind - mehr hat die Sensationsgier nicht gebraucht. Die damalige Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin war Opfer einer Sexualstraftat geworden, das wurde am Ende auch gerichtlich festgehalten. Doch der Hergang wird für immer unklar bleiben, Spiess-Hegglin kann sich nicht erinnern. Waren K.O.-Tropfen im Spiel - man weiß es nicht.

"Vier Jahre lang durch die Gassen geschleift"

Dafür wussten viele Schweizer Medien alles, der "Blick" hatte angefangen, viele - teils auch Qualitätsblätter sprangen auf. "Ich wurde vier Jahre lang als Täterin präsentiert und durch die Gassen geschleift", sagt Spiess-Hegglin im #doublecheck-Interview.


Es sei dann aber nicht berichtet worden, dass sie überhaupt nichts falsch gemacht habe. Im Gegenteil, es wurden immer wieder neue Geschichten erfunden, die rechtskonservative "Weltwoche" etwa, die ging es pseudo-politisch an. Dort wurde die Geschichte "Linke Frau macht rechten Mann fertig" konstruiert.

Manche Journalisten haben sich entschuldigt

Manche Journalistinnen und Journalisten, auch von der renommierten "Neuen Zürcher Zeitung", haben sich bei Spiess-Hegglin entschuldigt. Unter anderem dafür, dass sie über sie geschrieben haben, ohne mit ihr zu reden. Sie stellten sich für Testimonials für eine große Crowdfunding-Aktion zur Verfügung, die erfolgreich gewesen ist. Mehr als 82.000 Schweizer Franken, knapp 75.000 Euro, sind zusammengekommen. Damit soll der Kampf von Jolanda Spiess-Hegglin vor Gericht gegen den mächtigen Ringier-Verlag finanziert werden. Ringier macht eine Milliarde Franken Umsatz und gibt den "Blick" heraus, der sich bisher nicht entschuldigt hat. In erster Instanz ist der Verlag vor kurzem wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Spiess-Hegglin verurteilt worden. Zu 20.000 Franken Geldbuße.

Jetzt schreibt der "Blick" nicht mehr

"Der "Blick" hat in dem Moment aufgehört, über mich zu schreiben, als ich die Klage eingereicht habe", sagt Jolanda Spiess-Hegglin. Ringier hat auch sonst Wirkung gezeigt: Plötzlich gibt es großzügige Vergleichsangebote an die Ex-Politikerin. Spiess-Hegglin hat den Grünen und der Politik insgesamt längst den Rücken gekehrt. Sie ist heute Netzaktivistin und kämpft gegen die Hasstiraden, die sie immer noch laufend erreichen. Sie unterstützt aber auch andere Opfer von Hate Speech. Der größte Vorwurf gegen Spiess-Hegglin ist: dass sie nicht endlich Ruhe gibt. "Sie möchten, dass die Frau gefälligst schweigt, wenn so etwas passiert. Das habe ich mir nicht gefallen lassen."

Spiess-Hegglin will nicht, dass Gras wächst

Gras hätte wachsen sollen über die Sache. Doch das Opfer wollte nicht, dass Gras drüber wächst. Ende Juni hat es einen Termin mit Ringier-Vorstandschef Marc Walder gegeben, der Spiess-Hegglin wieder bekniet hat, sich zu vergleichen. Die Aktivistin hat freilich die Berufungsschrift der "Blick"-Anwälte für das anhängige Verfahren gelesen. Auf 70 Seiten würden schon wieder falsche Anschuldigungen und Behauptungen gegen sie aufgelistet, sagt Spiess-Hegglin. "Das ist der blanke Hohn, das macht mich so wütend. Wir werden das jetzt durchziehen."

Der Verlag soll den Gewinn herausgeben

Durchziehen, das heißt: Ringier soll sich per Gerichtsanordnung bei ihr entschuldigen müssen. Das wäre ein Novum. Und dann will Spiess-Hegglin den Blick auf Gewinnherausgabe klagen. Sie will das Geld, das der "Blick" mit den Artikeln über sie verdient hat - durch mehr Online-Zugriffe etwa. Dann wäre es mit einer läppischen Geldbuße nicht mehr getan, das würde richtig weh tun. Und ein Präzedenzfall würde geschaffen. Der Chefredakteur der "Neuen Zürcher Zeitung", Eric Gujer, ist skeptisch, ob die Klage Erfolg hat, aber: "Das wäre ein scharfes Schwert. Und das würde viele Verlage, die Borderline-Journalismus betreiben, dazu bringen, sehr viel genauer hinzuschauen. Das wäre gut."

Scharfes Schwert gegen Borderline-Journalismus

Ähnlich Michael Pilz, Anwalt in Wien und Medienrechts-Experte, er kennt das Urteil des Schweizer Bundesgerichts, der obersten Instanz, auf das sich Spiess-Hegglin und ihre Rechtsberater stützen, und er sieht durchaus Chancen, das zu gewinnen. Für Pilz wäre das auch aus österreichischer Sicht eine große Sache: "Ich würde mir als Medienrechtler so ein scharfes Schwert öfter wünschen." Im Sprengel des Landesgerichts Wien, wo die meisten österreichischen Medien ihren Sitz haben, würden im Jahr unter 150.000 Euro an medienrechtlichen Entschädigungen zugesprochen. "Das ist gemessen am Umsatz der Medienunternehmen ein Nadelstich, nichts."

Ein übles Geschäftsmodell könnte kippen

Die Gewinnabschöpfung wäre definitiv kein Nadelstich mehr. Im Fall Spiess-Hegglin könnte sich das auf weit mehr als eine Million Franken summieren. Allein im "Blick" sind an die 250 Artikel über den Fall erschienen, viele hatten online Rekord-Klicks und die sind auch gut dokumentiert. Spiess-Hegglin war 2015 die drittmeist gegoogelte Person in der Schweiz. Kann hier ein Geschäftsmodell, das auf der Sensationsgier aufbaut, kippen? Michal Pilz: "Geschäftsmodell ist ein harter Ausdruck, aber die Konkurrenz am Boulevard führt schon oft dazu, dass man das Persönlichkeitsrecht zur Seite schiebt."

Österreichs Rechtssystem anders gelagert

Auf Österreich lässt sich das Beispiel aus der Schweiz nicht so leicht umlegen. Im Zivilrecht- im ABGB - gibt es den sogenannten Verwendungsanspruch nach dem Muster: Wenn jemand eine Geldbörse findet und mit dem fremden Geld im Lotto gewinnt, kann der Eigentümer der Geldbörse den Lotto-Gewinn einklagen. Einmal waren Kabarettisten vor Gericht erfolgreich, deren Stimmen man für einen Werbespot imitiert hat, so Michael Pilz. Ob das auch für einfache Bürger oder Ex-Politiker anwendbar wäre, da ist der Anwalt nicht sicher.

Jolanda Spiess-Hegglin plagen keine Zweifel, noch dazu wo sie - die allein gegen den Boulevard angetreten ist - jetzt die Unterstützung der Spender hat: "Diese Solidarität ist ein Wahnsinn, die man da spürt. Also wenn wir schon die Möglichkeit haben, Geschichte zu schreiben, dann schreiben wir die auch."

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