ORF/JOSEPH SCHIMMER
Tonspuren
Totentänze
Ein "Tonspuren"-Gruß in die vergangenen zwei Jahrzehnte.
18. November 2019, 02:00
Tonspuren | 22 10 2019
Über meine Leichen. Späte Hommagen. Von Philip Scheiner
Wahrscheinlich sind mir ein paar entfallen. Eine Frau war unter ihnen. Erna Holleis. Sie hatte in einem kleinen Wiener Literaturverlag, für den ich arbeitete, veröffentlicht. Wir publizierten ein Buch mit Gedichten von Holleis. Wir interviewten sie, brachten eine CD heraus. Ich dachte darüber nach, ein Literaturfeature über sie zu gestalten. Sie nahm sich das Leben.
Ein ekelhaftes Getränk
Sonst waren es nur Männer. Fünf Jahre zuvor, 2001, verunglückte Christian Loidl in einem Zustand, der für ihn weniger regelwidrig war als für viele seiner Leserinnen und Leser, Zuschauer, Zuhörer. Ich hatte ihn bei Performances in Wien kennengelernt, traf ihn zufällig bei einer Zusammenkunft schreibender Menschen in Litauen, wir wurden Freunde.
Er schenkte mir zu einer Feier das ekelhafteste Getränk, an dem ich jemals genippt habe. Im Herbst desselben Jahres begegnete ich ihm auf der Straße. Er scherzte gegenüber seiner Begleitung, dass ich, wie er geschorenen Hauptes und mit grüner Armbanduhr verziert, nun sein Nachfolger würde. Ich wusste nicht so recht. Die Idee, ihn zu porträtieren, lag noch in den Windeln. Im Dezember stürzte Loidl aus dem Fenster.
Dichterleichendichte
Die Jahrtausendwende wies eine erhöhte Dichterleichendichte auf. Begonnen hatte die Serie mit zwei "großen" Österreichern, H. C. Artmann und Ernst Jandl. Beiden wollte ich Jungspund ein, noch ein Radiodenkmal setzen. Ich fand, ich hätte den vorhandenen Rundfunkarbeiten etwas Neues hinzuzufügen. Kaum hatte ich den Entschluss dazu gefasst, verstarben die Protagonisten. Meiner bunten Begeisterung für ihr Genie wurde des Todes Blässe angekränkelt, dachte der Hamlet in mir. Von dem Empfinden, es könnte sich um etwas anderes als Zufall handeln, war ich noch ein paar Zentimeter entfernt.
Noch Walter Davys Tod versetzte mich in arglose Bestürzung. Ihn hatte ich kontaktiert, weil ich seine Darstellung der Figur Schremser in "Kottan ermittelt" schätzte und wusste, dass er sich überdies nicht nur als Regisseur, sondern auch als Drehbuchautor profiliert hatte. Es war ein Feature über einen Landarzt in Arbeit, ich wollte Davys Rat hinsichtlich des Aufbaus der Geschichte oder so. Er nahm sich einen Nachmittag Zeit, in seinem überschaubaren, wiewohl unübersichtlichen Arbeitszimmer. Ich versprach, ihn über die Entwicklung des Manuskripts auf dem Laufenden zu halten. Dann starb er.
Mein Verdacht
In den folgenden eineinhalb Jahrzehnten wuchs der Verdacht, meine Beschäftigung mit schreibenden Persönlichkeiten könnte sich ungünstig auf deren Lebenserwartung auswirken, proper heran. Er wurde bisweilen zu einer bizarren Gewissheit. Am vorläufigen Ende dieser Kette steht Roger Willemsen. Ich hatte seine Bücher gelesen, seine Videos gesehen. Ich schrieb ihm, denn ich wollte ihn treffen. Ein Feature über Knut Hamsuns "Mysterien" war in Planung, eines von Willemsens und meinen liebsten Büchern. Er antwortete höflich, er freue sich.
Am nächsten Tag erreichte mich Post von seiner Agentin. Sie teilte mit, dass Roger zurzeit viel unterwegs sei, vor allem im Ausland. Ein paar Monate später kam die konzise Nachricht eines Freundes, in der ich gefragt wurde, ob ich schon wieder meine Finger im Spiel gehabt hätte.
Das ist makaber, vielleicht mutet es zynisch an. Diesem Hautgout soll in den "Tonspuren" im Takt der Huldigung begegnet werden. Zwei Handvoll Dichter werden vor den Vorhang der Literaturgeschichte gebeten, auf ein Tänzchen durch ihre Sprachen.