AP/HARNA/ANDREW HARNIK
"Offener Brief an Italien"
Eine literarische Reise nach Italien
"Offener Brief an Italien" - so heißt ein Gedicht Rose Ausländers, in dem sie diesem einmaligen Land ihre Liebe erklärt. Sein Titel ist als Motto vier Ausgaben von "Du holde Kunst" vorangestellt, die dem Nachbarn gewidmet sind.
28. Juli 2020, 12:00
Zu den Sendungen
Du holde Kunst | 7./14./21./28.6.2020
Radiogeschichten | 3./4./5.6.2020
Von der Italien-Sehnsucht der deutschen Dichter über Liebeslyrik von Dante Alighieri über Michele Novaro und die auf Ischia entstandenen Gedichte Ingeborg Bachmanns bis zu lyrischen Spaziergängen durch Venedig.
Zweifache Sehnsucht
Wenn das lyrische Ich in Johann Wolfgang von Goethes fünfter "Römischer Elegie" als um sich selbst kreisendes Bewusstsein des Nordens in die Sonne des Südens tritt, begegnet es Apoll, dem Gott gleichermaßen des Lichts wie der Dichtkunst. Die Sehnsucht nach dem Süden ist also eine zweifache: jene nach der Helligkeit der Landschaft und jene nach der Erhellung des Geistes (aus der Lichtquelle der Kultur). Das lyrisches Ich kommt dort noch mit ganzer Seele an, steht jubelnd auf "klassischem Boden".
"... das steinerne Laubwerk tropft ..."
Peter Huchel
In den Dichtungen jüngerer Epochen wird diese Ankunft schwieriger: Die Wahrnehmung italienischen Lebens wird überlagert von der Idee des Klassischen. Man blickt gleichzeitig auf zwei parallele Wirklichkeiten. In Hermann Hesses Gedicht "Ankunft in Cremona", einem nächtlichen Entdecken der Stadt, wird dies mit "kaum erschaut, ist alles wie bekannt" noch positiv formuliert. In einem Gedicht Ricarda Huchs erstarrt jedoch ein "verzückter Komponist" zu einem unbeachteten Denkmal, umgeben vom profanen Treiben in einem zerbröckelnden, faulenden Hafen. Vergeblich versucht der Dichterblick, die Statue zu beleben. Dies gelingt beinahe in Peter Huchels Gedicht "Venedig" im Regen, wo sich Natur und Kultur gegenseitig durchdringen, wenn "das steinerne Laubwerk tropft".
AP/ANTONIO CALANNI
Venedig mit offenen Augen träumen
Auch Rose Ausländers Aufforderung, Venedig mit offenen Augen zu träumen, ist ein Versuch, den Abstand zwischen Wahrnehmung und Idee zu überwinden. Sinnlich wird dies bei Stefan Zweig, Friedrich Nietzsche und H. C. Artmann vollzogen.
In Zweigs synästhetischem venezianischen Morgenerlebnis verschmelzen Licht und Glockenton. Im dionysischen Rausch - "Wo bin ich doch? Ach, weit! Ach, weit! " - ersetzt Nietzsches lyrisches Ich im Kreis seiner "schlimmen Vögelchen" die Vernunft durch die Erotik. In Artmanns Gedicht "Nach Italien" blühen im Lied die Zitronen, das Land wird mit einem Liebesakt gefeiert.
AP/HARNA/ANDREW HARNIK
Beglückende Ferne
Nicht Nähe, sondern eine Ferne, wenn auch eine beglückende, bleibt das Land in Ausländers aus Amerika gesandtem "Offenen Brief an Italien", koloriert mit der romantischen Farbe der Sehnsucht: Italiens "Haut ist blau, wie die Blume, die der Dichter sich einst an die Stirn steckte".
Venedig, dem die letzte Ausgabe der Italien-Reihe gewidmet ist, wird dann zum Inbegriff dieser Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Idee, von Moment und Kontinuität. Es ist die Stadt, in der "die Zeit schläft" (Hermann Hesse) - die ewig Versinkende.