
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Burgtheater in Ö1
Das unsichtbare Theater
Ein Kommentar von Sebastian Huber, Dramaturg am Burgtheater
10. Juni 2021, 12:00
Das Burgtheater ist, wie alle anderen Theater des Landes, seit etwas mehr als einem Jahr so gut wie unsichtbar. Das Haus am Ring steht zwar weiterhin da, aber es scheint von außen reglos und unbelebt, seiner Funktion beraubt, eine gut erhaltene Fassade. Das Theater dahinter bleibt verborgen. Ist da was?
Sondersendung | 09 05 2021, 19
Ein Abend für das Burgtheater
Zum Sendungsüberblick
Eigentlich bezeichnet der Begriff "Unsichtbares Theater" eine vom brasilianischen Regisseur Augusto Boal in den 1970er Jahren entwickelte Form, das Theater aus seinen angestammten Räumen hinaus auf die Straße zu bringen und das Publikum direkt an den theatralischen Handlungen zu beteiligen. Theater als eine Form öffentlicher Intervention, "Probe-Handlung" zur Vorbereitung auf reales politisches Handeln. Boal entwickelte seine Theorie und Praxis unter den Bedingungen einer Militärdiktatur, sein Engagement für ein "Theater der Unterdrückten" bezahlte er mit mehrmonatiger Haft und Folter.
Anstalten des öffentlichen Nachdenkens
Demokratisch verfasste Gesellschaften zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie den Menschen Freiheiten garantieren, die Diktaturen verwehren - die Freiheit der Rede, der Kunst, der Presse, der Justiz, nicht zuletzt die Freiheit von Folter, um nur die zu nennen, auf die Augusto Boal mit seinem Theater Anspruch erhob -, sondern auch dadurch, dass sie den Zugang zu Bildung und Kultur gewährleisten und so Möglichkeiten zur freien Entfaltung der Persönlichkeit schaffen. Demokratien unterscheiden sich von Diktaturen auch dadurch, dass sie ihre Schulen, Universitäten, Museen, Konzerthäuser, Rundfunkanstalten und Theater als Anstalten des öffentlichen Nachdenkens über unser Zusammenleben, als Orte kritischer Reflexion organisieren und anerkennen.
Einer Demokratie kann es daher nicht gleichgültig sein, wenn große Teile des kulturellen Lebens zum Erliegen kommen und die Theater seit fast einem Jahr "unsichtbar" sind. Hier soll selbstverständlich nicht die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie bestritten werden. Aber der Ansicht, dass all diese Institutionen für ein paar "Kunstverliebte" da seien, die leider mal für eine Weile ihre Freizeitgewohnheiten umzustellen hätten, muss heftig widersprochen werden.
... entworfen, gebaut, geschneidert, geprobt, als ob es ein Morgen gäbe
Das "unsichtbare" Burgtheater war in den Monaten seiner Schließung alles andere als untätig. Wir haben - zu großen Teilen in Kurzarbeit - entworfen, gebaut, geschneidert, geprobt, als ob es ein Morgen gäbe, getrieben von immer neuen Ankündigungen, bald wieder öffentlich spielen zu können. Und auch wir suchen natürlich Orte jenseits unserer angestammten Theaterräume, um wenigstens Eindrücke unserer Arbeit nach außen tragen zu können: das Internet, vielleicht bald Orte unter freiem Himmel oder eben das Radio. Wir sind daher sehr dankbar für die Möglichkeit, im Mai in Ö1 unsichtbares, aber hoffentlich unüberhörbares Theater zu machen. Wie sagte schon Augusto Boal: "Überall kann Theater stattfinden - sogar im Theater." Hoffen wir’s.
Text: Sebastian Huber, Dramaturg am Burgtheater, war hier bereits von 2002 bis 2009 als Dramaturg tätig