Annie Ernaux - APA/AFP/JACQUES DEMARTHON
Literatur
Nobelpreis an Annie Ernaux
Der diesjährige Nobelpreis für Literatur geht an die französische Romanautorin Annie Ernaux. Die 82-Jährige werde für "den Mut und den klinischen Scharfblick" geehrt, mit denen sie "die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen des persönlichen Gedächtnisses bloßlegt", teilte das Nobel-Komitee in Stockholm am Donnerstag mit.
6. November 2022, 02:00
Ernaux war schon seit vielen Jahren als Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt worden. Sie hat rund 20 literarische Werke verfasst, ins Deutsche übersetzt wurden unter anderem "Eine Frau", "Die Scham" und "Erinnerung eines Mädchens". In ihrem Werk seziert Ernaux die Erfahrungen von Mädchen und Frauen in der französischen Gesellschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
"Erinnern ist eine Form der Erkenntnis!"
Als "Ethnologin ihrer selbst" hat sie der französische Soziologe und Schriftsteller Didier Eribon bezeichnet. Annie Ernaux ist eine Autorin, die geschult an Bourdieus Soziologie der feinen Unterschiede die eigene Lebensgeschichte zum Steinbruch eines großen autofiktionalen Projekts gemacht hat. Dieses zeigt auf wie jede individuelle Lebensgeschichte von den Koordinaten des großen gesellschaftlichen Ganzen geprägt ist. Dass dieses autofiktionale Verfahren immer nur eine Annäherung sein kann: "Heute dasselbe zu empfinden wie damals ist unmöglich", schreibt die Autorin.
In den autofiktionalen Bänden "Der Platz", im französischen Original 1983 erschienen, und "Eine Frau" schreibt Annie Ernaux über ihren Vater bzw. ihre Mutter, die aus dem Arbeitermilieu stammen und einen kleinen Krämerladen in der französischen Provinz betreiben. Die Konfrontation mit der eigenen Herkunft ist für die Erzählerin, die als Lehrerin den Aufstieg in die Bourgeoisie geschafft hat, stets mit Scham und Entfremdung verbunden. Ernaux selbst schreibt, sie wolle "ans Licht holen, was ich an der Schwelle zur gebildeten bürgerlichen Welt zurücklassen musste."
Pionierin des autofiktionalen Erzählens
Im deutschen Sprachraum ist Annie Ernaux mit dem Band "Die Jahre", 2017 in der deutschen Übersetzung erschienen ist, bekannt geworden. Darin beschreibt die 1940 geborene Autorin das Leben einer Hausfrau und Lehrerin, die in einem Pariser Vorort lebt und spannt ein großes historisches Panorama von den 1950er Jahren bis in die Zweitausenderjahre auf. Diese Durchschnittsbiographie wird mit den großen historischen Umbrüchen enggeführt: Vom Algerienkrieg über den Mai 68 bis zur Ära Mitterand. Annie Ernaux schreibt gesellschaftspolitische Erinnerungsliteratur und wurde damit in Frankreich zur Begründerin einer neuen Tradition autofiktionalen Erzählens, deren Fokus auf den einzementierten Klassenunterschieden der französischen Gesellschaft liegt. Der große französische Soziologe Didier Eribon, der mit "Rückkehr nach Reims" einen Roman vorgelegt hat, in dem er erklärt, warum die Arbeiterklasse in Frankreich den Front national wählt, betonte immer wieder, dass seine Literatur ohne Annie Ernauxs Pionierarbeit undenkbar wäre. Shootingstars der Literatur wie Edouard Louis feiern als Epigonen Annie Ernauxs internationale Erfolge.
Charakteristisch für Annie Ernaux ist ein nüchterner, präziser Stil, der gänzlich ohne Metaphern auskommt. Autofiktion ist bei Ernaux keine larmoyante Nabelschau, die beständig um sich selber kreist, sondern muss als soziologische Befragung verstanden werden, die den Einzelnen in einer sozialen klassenspezifisch geprägten Matrix verortet. Oft wird die Betrachtung historischer Dokumente oder Fotografien zum Ausgangspunkt der literarischen Erinnerung.
Literatur geschult an der Soziologie der feinen Unterschiede
Mit "Das Ereignis" ist zuletzt 2021 ein weiterer Mosaikstein von Annie Ernauxs großem autofiktionalen Projekt in der deutschen Übersetzung erschienen – 20 Jahre nach der französischen Erstausgabe. In "Das Ereignis" schildert Annie Ernaux das traumatische Erlebnis einer illegalen Abtreibung im Frankreich des Jahres 1963. "Man hat darüber nicht gesprochen, wenn es Bücher über Abtreibung gab, waren diese gegen Abtreibung", erinnert sich die Autorin, "Es war ein riesiges Tabu. Der Kampf für die Legalisierung von Abtreibungen hat erst nach 1968 begonnen."
Der Blick auf das weibliche Begehren
Für die Verfilmung dieses Stoffes wurde die französische Filmemacherin Audrey Diwan bei den Filmfestspielen in Venedig 2021 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Es ist nicht zuletzt ein großes Verdienst Annie Ernauxs, dass sie Themen wie Schwangerschaftsabbruch, das weibliche Begehren und die weibliche Sexualität aus der Ecke der so genannten Frauenliteratur herausgeholt hat. Vor allem im deutschsprachigen Raum war die Rezeption von Annie Ernauxs Literatur lange fehlgeleitet. In ihrem Romanen "Sich verlieren" und "Eine vollkommene Leidenschaft" beleuchtet Ernaux die toxische Beziehung zu einem russischen Diplomaten, in dessen physische und psychische Abhängigkeit sich die Erzählerin begibt. In den Zweitausender Jahren verschwand Ernaux, deren Bücher damals in der deutschen Übersetzung in einem populären Verlag erschienen, deshalb in der Schmuddelecke des grauschattierten Erotikkitsches. Ein Missverständnis, das spätestens mit dem Nobelpreis ausgeräumt sein sollte.
Text: APA/Red./Christine Scheucher