Kinder spielen zwischen Trümmern und Hausruinen, 1946

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Gemeinsam erinnern

Was Kinder nach 1945 erlebt haben

Menschen, die rund um das Jahr 1945 geboren wurden, gehören zur letzten Generation, die selbst Geschichten aus der Nachkriegszeit erzählen können. Die Erinnerungsplattform „Gemeinsam erinnern“ hat hunderte Audios und Texte online gesammelt. Ein dreiteiliges „Radiokolleg Spezial“ bringt Ausschnitte und thematisiert die Bedeutung von Erinnerungsarbeit und Erinnerungskulturen ganz grundsätzlich.

Als Vierjährige flüchtet Gertraud mit ihrer hochschwangeren Mutter im Frühjahr 1945 aus der sowjetischen Zone Richtung Westen. Hungrig und frierend stranden Mutter und Tochter auf dem Bahnhof von Bischofshofen, da bietet ein Passant überraschend Hilfe an, berichtet Gertraud: „Er hat gesagt: ‚Ich bin ein Bauer aus Lienz und habe selbst zwölf Kinder. Kartoffel und Milch haben wir, wenn Sie zufrieden sind, dann können Sie kommen.‘ Bis heute ist der Sutter-Bauer mein Herrgott.“

Von Bomben zerstörtes Wien, 1945-46: Aufräumarbeiten

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Karl Renner nach der Konstituierung der Provisorischen Staatsregierung am 29. April 1945

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Ö1 Schwerpunkt - 80 Jahre Zweite Republik

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Heimkehrer vor einem zerbombten Haus

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1945 und die Folgen

Lebendige Zeitzeugenschaft

Menschen, die rund um das Jahr 1945 geboren wurden, gehören zur letzten Generation, die selbst Geschichten aus der Nachkriegszeit erzählen können. In der Erinnerungsforschung sind daher 80-Jahre-Jubiläen besonders wichtig, denn sie markieren einen Generationenwechsel. Diese noch lebendige Zeitzeugenschaft hat Ö1 mit dem Oral History Projekt „Gemeinsam erinnern“ in den Mittelpunkt gestellt und am Telefon zugehört, was die Anrufer:innen als Kinder und Jugendliche zu Beginn der Zweiten Republik erlebt haben.

„Das werde ich nie vergessen, als die Mutter uns Kindern einen Teller Suppe auf den Tisch gestellt und geweint hat,“ erinnert sich Manfred Golda, Jahrgang 1941, aus Klagenfurt an gekochtes Wasser mit ein bisschen Mehl, Kümmel und Salz. Diese Suppe war alles, was sie ihnen geben konnte.

Geschichten von Angst und Mut

Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichten vom Mangel an Essen und einem schneereichen Winter ohne Schuhe, von minimalistischen Weihnachtsgeschenken und sorglosem Spielen in Bombenruinen, von der Heimkehr unbekannter Väter und von Müttern und Frauen, die sich vor der Gewalt der Soldaten verstecken mussten.

Eine Anruferin von Waidhofen an der Ybbs erzählt von ihrer Großmutter, die in der Nacht in großen Töpfen Suppe kochte, den sie „Sautrank“ nannte. Das hat sie als Kind beeindruckt. Erst viel später hat sie verstanden, wie mutig ihre Großmutter war, denn sie hat in ihrem Haus Frauen vor den Russen versteckt und sie in der Nacht versorgen müssen. Geschichten wie diese, berühren und zeigen, wie groß die Angst aber auch der Mut der Menschen in dieser Zeit war.

Neue Erinnerungskultur

Fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich das kollektive Gedächtnis verändert. Wurde zunächst über die Ereignisse geschwiegen oder die Opferrolle eingenommen, wird jetzt vielschichtiger an diesen Abschnitt der österreichischen Geschichte erinnert. Welche Erinnerungen über den Alltag, die Not und die Angst wurden in den Familien weitergegeben? Worüber wurde kaum oder gar nicht gesprochen? Wie haben sich die Leute nach dem Krieg geholfen, was hat Ihnen Hoffnung gemacht?

Alle aufgenommenen und eingelangten Geschichten über Zerstörung, Gewalt, Not, Solidarität, Hoffnung und Neustart sind auf der Erinnerungsplattform oe1.orf.at/zweiterepublik zu hören und zu lesen. Eine Auswahl aus den hunderten Audios und Texten bringt das 3-teilige Radiokolleg Spezial, das auch die Bedeutung von Erinnerungsarbeit und Erinnerungskulturen ganz grundsätzlich thematisiert.

Die Zukunft der Erinnerung

Lebensgeschichtliche Archive sind gefordert, im digitalen Zeitalter neue Wege zu gehen. Nicht nur die Mediennutzung ist vielfältiger, auch die Aufbereitung und die Bewahrung der zeithistorischen Dokumente oder Zeitzeugen-Erzählungen.

Text: Barbara Volfing, Claudia Unterweger und Ina Zwerger

Service

Radiokolleg Spezial „Gemeinsam erinnern (1-3) von 16.-18.6.2025 wird gestaltet von Ute Maurnböck, Claudia Unterweger, Barbara Volfing, Sabine Nikolay und Ina Zwerger