
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Radiogeschichten Spezial
Michael Köhlmeier erzählt die Geschichte seiner Eltern
Mit seinen freien Nacherzählungen der "Klassischen Sagen des Altertums" erreichte Michael Köhlmeier Mitte der 1990er Jahre auch auf Ö1 ein breites Publikum. Nun hat sich der Vorarlberger Autor wieder für den Radiosender vor das Mikrofon gesetzt und erzählt ab 6. Mai jeweils dienstags ab 11.05 Uhr in vier Folgen der "Radiogeschichten" "Mein privates Glück! Die Lebensgeschichte meiner Eltern".
25. April 2025, 09:03
- Teil 1: Begegnung der Eltern
- Teil 2: Jugend seines Vaters
- Teil 3: Zeit bei der Großmutter
- Teil 4: Rückkehr nach Vorarlberg
Wenn Michael Köhlmeier zu erzählen beginnt, dann ist man in der Geschichte. Ich zumindest. Sofort und ohne Unterbrechungen. Als wir uns zur Aufnahme im Studio treffen, weiß ich wenig über die Familiengeschichte dieses großartigen Literaten. Er wird sie mir in zwei Stunden erzählen. Er schlägt sein schwarzes, großes Buch auf - "Davon habe ich mehr als 20" -, in diesem Buch befinden sich Notizen, Schlagwörter, man könnte sie auch Wegmarkierungen nennen, die durch eine Lebensgeschichte führen, die vor Michael Köhlmeiers Geburt beginnt - bei seiner Mutter Paula im Kriegsjahr 1943 im protestantischen Coburg. Dort wächst die Katholikin auf und verbringt am liebsten Zeit mit ihrer engen Freundin Marianne, die Michael Köhlmeier später Tante Marianne nennen wird - einer geerdeten, pragmatischen Frau, die sich in Paulas Cousin Karl, einen Poeten, verlieben wird.
Meine Mutter, das muss man wissen, denn es ist für später wichtig, meine Mutter war eine leidenschaftliche Geherin.
Und sie ist auch gern mit dem Fahrrad gefahren. "Die größte Freude war es, wenn sie das Fahrrad die Feste Coburg raufgeschoben hatte und dann ohne zu treten bis zum Marktplatz runterrollen konnte."
Auf einem dieser Ausflüge lernen Paula und Marianne zwei Soldaten auf Heimaturlaub kennen, einer davon ist Michael Köhlmeiers Vater Alois "Wise" Köhlmeier, ein Bauernbub aus dem Ort Hard am Bodensee in Vorarlberg. Paula und Wise entwickeln Sympathie füreinander, "meine Mutter hatte zwei Kriterien für Männer: Er musste Manieren haben und katholisch sein", sie beginnen, einander Briefe zu schreiben, und verloben sich schriftlich.
Nach dem Krieg weiß Paula nicht, ob ihr Verlobter noch lebt, sie möchte eine Pilgerreise nach Rom machen und beschließt, auf dem Weg dorthin in Hard am Bodensee vorbeizuschauen. "Es war Sommer und sie kam dann in Hard an, hat sich das angeschaut: Es gab nur Bauernhäuser, eine Kirche in der Mitte, die Kirche ganz in der Nähe vom See und im Zentrum des Dorfes: ein Brunnen." Dort trifft sie ihren Mann wieder, sie heiraten und werden Eltern. Dann kommt nach Michael und seiner Schwester das dritte Kind.
Es war, als ob der Blitz vom Himmel durch diese Frau hindurchgefahren ist und sie in zwei Hälften gespalten hat. Von da an war sie halbseitig gelähmt.
Paula, diese Frau, die immer so gern ging, kann es nicht mehr, sie verfällt ins Koma und niemand weiß, ob sie sterben oder leben wird.
Die Kinder kommen zu Paulas Mutter nach Coburg, da ist Michael zweieinhalb Jahre alt. Seine Großmutter, seine Tante Martha, die kinderlos war und deren Mann Herbert, kümmern sich. "Und die Oma ist mir begegnet als ein unglaublich abergläubischer, magischer Mensch. Also ich möchte erzählen, das ist eine der ersten Erinnerungen: Ich habe mit der Oma im selben Haushalt gewohnt, am Rand von Coburg, mit einer Sicht auf diese wunderbare Feste Coburg. Und ich habe nichts lieber gemacht, als mit ihr einzukaufen. Da hat sie sich immer schön angezogen. Eine goldene Brosche. Und dann sind wir runtergegangen. Und dann haben wir schon Wetten gemacht. Und sie hat gesagt: Also wenn uns bis unten kein rotes Auto begegnet, wird der Tag gut," erzählt Köhlmeier. Diese Oma ist eine unglaubliche Erzählerin. "Vielleicht war sie das Vorbild für mein ganzes Leben, wie ein Erzähler sein soll."
Michael Köhlmeier erzählt von seiner Großmutter und ihrer erzählerischen Begabung.
Als ich Michael Köhlmeier auf den Titel seiner Erzählung anspreche, sagt er:
Das tiefste Glück ist immer die Kindheit. Daraus bezieht man, wenn sie gut gelaufen ist, alles für später. Sie ist wie eine Schale, aus der das weitere Leben entspringt. Und mein tiefstes privates Glück hat seine Wurzeln in diesem Coburg.
Nach zwei Stunden klappt Köhlmeier sein dickes, schwarzes Buch zu und mit ihm die Erinnerungen, die es enthält. Ganz professionell sagt er: „Fertig sind wir.“ „Für heute ja“, sage ich und denke: Wie wichtig und heilsam es doch ist, Geschichten zu erzählen.
Text: Elisabeth Weilenmann