Ö1 Kunstsonntag: Zeit-Ton extended

Valentin Silvestrov, Doyen der ukrainischen Komponisten

Neue und experimentelle Musik aus der Ukraine (1). Valentin Silvestrov und seine stilistischen Hakenschläge

Wenn man über die zeitgenössische Musik der Ukraine spricht, kommt man ohne einen Namen nicht aus: Valentin Silvestrov (82). Er gilt als der bedeutendste lebende Komponist des Landes. Sein Stil hat überraschende Haken geschlagen, von einer strengen Avantgarde in den 1960er Jahren zu einer breitenwirksamen Neo-Romantik, die über das Label ECM weltweit Verbreitung gefunden hat.

Auch für junge Komponierende des Landes ist Silvestrov entweder Leitbild oder Reibebaum - jedenfalls eine wichtige künstlerische Figur, an der man nicht vorbeikommt. Rainer Elstner stellt im "Zeit-Ton extended" Werke aus den unterschiedlichen Schaffensphasen von Silvestrov vor und stellt sie Musik der jüngsten Komponistengeneration gegenüber. Zu Wort kommen die Komponisten Maxim Kolomiiets und Alexei Shmurak sowie die Musikwissenschaftlerin und Musikkuratorin Liuba Morozova.

"Valentin Silvestrov ist der Elefant im Raum, wenn man über zeitgenössische Musik der Ukraine spricht. Man kann diese große Figur nicht ignorieren", sagt Alexey Shmurak, Künstler, Komponist, Soundartist, Ensemblegründer. "Er ist der einzige Komponist von Weltgeltung, den der ukrainische Staat hat."

Silvestrov lebt heute zurückgezogen in Kiev. Begonnen hat er als musikalischer Revolutionär. Als er sich ins Studium am Kiever Konservatorium stürzte, kam seine Begeisterung für westliche Avantgardeklänge nicht gut an. Er bekam nur eine Bescheinigung, dass er das Studium absolviert hatte, nicht, wie eigentlich üblich, ein Diplom. Er beteiligte sich an der Kiever Avantgarde, einer Gruppe, die sich an der Zwölftonmusik der westlichen Tradition orientierte - in der Sowjetunion damals verpönt. Ende der 1960er Jahre wurde Silvestrov sogar aus dem Komponistenverband ausgeschlossen.
Im Ausland gewann er dafür große Aufmerksamkeit, Bruno Maderna dirigierte seine Musik in Darmstadt. Eines der ikonischen Werke dieser Phase ist "Spektren", komponiert 1965. Ein Beispiel für "nono-esken Pointilismus", so ein Kritiker des "Grammophone Magazine" über diese historische Aufnahme, wieder herausgebracht bei Wergo. Für Aufsehen sorgten mit diesem Werk damals Solisten der Leningrader Philharmoniker unter der Leitung von Igor Blaschkow, selbst einer der führenden Köpfe der Kiever Avantgarde der 1960er Jahre.

"Silvestrov hat als Komponist eine archetypische Entwicklung gemacht", fasst Shmurak zusammen: "Vom neoklassischen Stil während seiner Studentenzeit über eine Phase der Avantgarde bis hin zur Post-Avantgarde - dem Stil, in dem er heute schreibt. Das ist eine archetypische Komponisten-Entwicklung für Osteuropa und für viele postsowjetische Persönlichkeiten im Besonderen."

Das Über-Historische ist Silvestrov wichtig. Seine Werke sieht er als eine Art Coda zur Musikgeschichte. "Bei der Entstehung von Musik ist der Komponist im Grunde nichts weiter als ein Dämpfer auf dem Klavier", hat Silvestrov in einem Interview gesagt. Der eine, der diese Dämpfer bedient, heißt eben mal Beethoven, ein andermal Mozart. "Je nach seiner Veranlagung filtert so ein Dämpfer dieses oder jenes heraus", so Silvestrov. "Er fasst etwas aus den kaum erfassbaren Wehen der Musik auf und verwandelt es in etwas Einzigartiges. Man darf darin keinen persönlichen Verdienst des Autors sehen", betont der Komponist. Ein durchaus postmoderner Ansatz also.

Noch etwas fasziniert Shmurak an Silvestrov: "Seine Melodien, seine Harmonien, sind total primitiv. Aber es bleibt ein großes Geheimnis, wie er aus diesen extrem einfachen Elementen etwas erschaffen kann, das so effektvoll klingt und gleichzeitig künstlerische Tiefe hat."

Wie Mahler oder Liszt entwickle Silvestrov so etwas wie müde musikalische Höhepunkte. Und er beginne seine Symphonie so - etwa die vierte Symphonie. Es ist allerdings nicht so eine kraftvolle Klimax wie oft bei Beethoven oder Lachenmann, sondern eben eine müde: "Diese Klimax ist nicht frisch und naiv - es ist die Klimax eines alten Mannes. So wie bei Mahlers zehnter Symphonie mit diesem berühmten dissonanten Akkord", erklärt Shmurak. "Wir können bei Mahlers Akkord fühlen, dass er von einer Person geschrieben worden ist, die bereits zehn Symphonien geschrieben hat. Und bei Silvestrov wirken die Höhepunkte vielleicht noch müder - und sie erklingen zudem gleich zu Beginn seiner Stücke. Das erinnert an eine klingende Psychoanalyse, Gestalttherapie - wir hören die Transformation dieses Materials, dann treten Melodien auf und schließlich gibt es ein sehr sehr langes Fade-Out."

Diese Dramaturgie eines dichten musikalischen Ereignisses zu Beginn und einer Ausdeutung dieses initialen Klanges zieht sich durch viele seiner Kompositionen. Shmurak erzählt dazu eine Anekdote: "Wenn er nicht weiß, wie er ein neues Werk beginnen soll, setzt er sich - peng! - auf die Tastatur des Klaviers und schreibt dann nieder, welche Tasten gedrückt worden sind. Dann transformiert er diesen Cluster in Orchesterklänge. Aus diesem entwickelt er alles weitere."

Gestaltung: Rainer Elstner

Service

Bandcamp - Valentin Silvestrov
ECM - Valentin Silvestrov
Soundcloud - Alexey Shmurak
ORF musikprotokoll - Maxim Kolomiiets
Soundcloud - Maxim Kolomiiets

Sendereihe

Gestaltung

  • Rainer Elstner

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Valentin Silvestrov/geb.1937
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Fjodor Tjutschew/1803 - 1873
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Siegfried von Nostitz /dt.Übers.
Album: VALENTIN SILVESTROV: STILLE LIEDER 1974-77 - Vokalzyklus in 4 Teilen f.Bariton u.Klavier n.Versen klass.Dichter RUSSISCH ges.
Titel: Nr.2 Der Richter, Gott, nahm alles mir - f.Valerie Lamakh
Gesamttitel: IV.TEIL: 5 LIEDER n.PUSCHKIN, TJUTSCHEW, MANDELSTAM, SHUKOWSKIJ
Solist/Solistin: Sergej Jakowenko /Bariton
Solist/Solistin: Ilja Scheps /Klavier
Länge: 02:10 min
Label: ECM New Series 1898/99/9821424

Komponist/Komponistin: Valentin Silvestrov
Titel: Spectrums: Symphony in Three Movements for Chamber Orchester
Ausführende: Ensemble of soloists of Leningrad Philharmonic Orchestra
Leitung: Igor Blazhkov
Länge: 03:27 min
Label: wergo

Komponist/Komponistin: Valentin Silvestrov/geb.1937
Titel: Metamusik (1992) - Symphonie für Klavier und Orchester
Sinfonie
Solist/Solistin: Alexei Lubimov /Klavier
Orchester: Radio Symphonieorchester Wien
Leitung: Dennis Russell Davies
Länge: 05:50 min
Label: ECM New Series 1790 < 4720812

Komponist/Komponistin: Valentin Silvestrov/geb.1937
Titel: Postludium (1984) - Symphonische Dichtung für Klavier und Orchester
Solist/Solistin: Alexei Lubimov /Klavier
Orchester: Radio Symphonieorchester Wien
Leitung: Dennis Russell Davies
Länge: 02:40 min
Label: ECM New Series 1790 < 4720812

Komponist/Komponistin: Valentin Silvestrov/geb.1937
Titel: Symphonie Nr.4 für Streicher und Blechbläser (in einem Satz)
* Andante - Allegro agitato - Meno mosso - Allegretto - Andante/Allegretto - Allegro agitato - Andante - Moderato - Meno mosso
Orchester: Lahti Symphony Orchestra
Leitung: Jukka Pekka Saraste
Länge: 15:47 min
Label: BIS CD 1703

Komponist/Komponistin: Alexey Shmurak
Titel: From the clean glass
Ausführende: Alexey Shmurak
Länge: 05:35 min
Label: Manus

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