Dokumentarroman von Per Olov Enquist
Die Ausgelieferten
Man kann die Geschichte der Abschiebung von 167 baltischen Männern, die zu Kriegsende nach Gottland geflohen waren, von der schwedischen Regierung aber nach einem dreiviertel Jahr in die Sowjetunion zurücktransportiert wurden, aus zwei, drei, oder vielleicht noch mehr Blickwinkeln lesen.
8. April 2017, 21:58
In seiner Autobiografie "Ein anderes Leben" bemerkte Enquist dazu: "Die Auslieferung der Balten ist und bleibt ein schwedisches Trauma. Man kommt um diese Geschichte nicht herum, weder damals noch heute. Als existenzielle Testsituation ist sie bemerkenswert. Ich lese diesen 42 Jahre alten dokumentarischen Roman jetzt nachdenklich von neuem und erkenne, dass der junge Schriftsteller, der in die Geschichte hineinging, nicht der gleiche war, der aus ihr hervorging."
Flucht vor den Sowjets
Enquist holt auf den fast fünfhundert Seiten seines "Lehrstückes" ziemlich weit aus: Geflohen waren die 167 baltischen Soldaten, der Großteil davon Letten, aus dem Kurlandkessel vor der vorrückenden Roten Armee. Die Balten hatten auf Seite der Deutschen gegen die Russen gekämpft - in der verwickelten Geschichte ihrer Länder zwischen Drittem Reich und Stalins Sowjetunion, deren Untertanen sie 1940 geworden waren, galten die "Kollaborateure" der Deutschen nunmehr als Vaterlandsverräter; bei Rückführung in die Sowjetunion drohte ihnen Tod oder zumindest Gulag.
In einer ähnlich prekären Lage befanden sich auch 3.000 in Schweden gestrandete deutsche Soldaten, die allerdings umstandslos an die Sowjets ausgeliefert wurden, und weitere 30.000 baltische Zivilisten, der noch viel dramatischere Hintergrund des Ganzen. Und, was auch nicht unwichtig ist: Ein Großteil der 167 "Legionäre", die in klapprigen Fischkuttern und Schlauchbooten über die Ostsee nach Gottland gelangt waren, hatte in der Waffen-SS gedient; einige von ihnen waren an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen.
Falsche Hoffnungen
Die schwedische Öffentlichkeit erfährt im Sommer und Herbst 1945 nur allmählich von diesen Balten. Anfangs hatten die Behörden den Soldaten sogar nahe gelegt, sich als Zivilisten auszugeben, was die Offiziere, in der Hoffnung, ihnen würde entsprechend der Haager Konvention auch in Kriegsgefangenschaft der Sold ausbezahlt, ablehnten. Das Friedens-Idyll mit Liederabenden, Schwimmen und Fußballspielen zwischen Internierten und Wachmannschaften wird durch die kleinen Reibereien zwischen Deutschen und Balten, Polen und Österreichern kaum gestört.
Als das Vorhaben der Schweden, die Internierten an die Russen auszuliefern, bekannt wird, reagieren diese entschlossen mit Hungerstreik. Die Regierung fasst die bislang auf verschiedene Lager verteilten Soldaten in Rännselätt zusammen. Enquist beschleunigt sein Erzähltempo in sarkastischer Lakonie: "Die baltischen Legionäre waren jetzt alle versammelt, und das Spiel konnte beginnen."
Pragmatische Entscheidung
Was war geschehen? Auf eine nicht besonders nachdrückliche Anfrage der Sowjets, was mit diesen Internierten geschehen werde, hatte die schwedische Regierung (zuerst eine Koalitionsregierung, dann eine sozialdemokratische Alleinregierung) in vorauseilender Untertänigkeit so geantwortet: "Die deutsche Armee, die so viel Böses angerichtet hatte, sollte sich den Folgen der Niederlage nicht einfach entziehe können. In der Sowjetunion gab es viel aufzubauen."
Diese quasi "pragmatische" Position bündelte ins sich unterschiedlichste, aktuelle und erst kurz zurückliegende Aspekte von Schwedens Innen- wie Außenpolitik: Das neutrale Schweden war in Fragen der Einwanderungspolitik - was Flüchtlinge vor den Nazis betraf - sehr zurückhaltend gewesen, verlässlich hatte man das Dritte Reich allerdings mit kriegswichtigen Erzlieferungen versorgt.
Dann hatte die Sowjetunion auch Schweden von den deutschen Barbaren sozusagen befreit, und mittlerweile ging es darum, mit dem großen Nachbarn im Osten "normale" Verhältnisse zu aufzubauen. Laut Übereinkunft der Alliierten sollten Kriegsgefangene an jenes Land übergeben werden, gegen das sie zu Kriegsende gekämpft hatten. "Legionärerna", wie Enquists Buch im Original etwas martialischer heißt, entfaltet die ganze innen- wie außenpolitische Problematik bis in ihre letzten Verästelungen: Jedes Detail wird auf die "Goldwaage" des Gerechtigkeitsgefühls gelegt.
Stimmung in der Bevölkerung kippt
Die letztendliche Entscheidung des sozialdemokratischen Regierungschefs Per Albin Hansson gegen die Balten war alles andere als ein Ruhmesblatt, fand aber jedenfalls auch die Unterstützung von König Gustav Adolf. In der Bevölkerung war die Stimmung mittlerweile zugunsten der Balten gekippt: In Göteborg predigte ein Pastor über die "unschuldigen Balten und Deutschen, die von Schweden gequält" würden, so: "Das ganze Land stinkt nach unschuldigem Blut, unser Fahne ist auf ewig befleckt. Unsere Reichstagsabgeordneten und unsere Regierung werden von Gott ihre gerechten Strafe erhalten."
Und ein Kind schrieb im November 1945 folgenden - "An den König, Stockholm, Schloss" - adressierten Bittbrief: "Eure Majestät, ich bin ein Mädchen von neun Jahren, das von den Balten gelesen hat. Ich bitte Euch, lieber König, lasst sie hier bleiben, damit sie nicht sterben müssen."
Böse Zungen sollten später behaupten, in der ganzen Affäre sei es eigentlich um ein schwedisch-sowjetisches Wirtschaftsabkommen gegangen, die Balten seien gegen eine Kohlelieferung aus Polen, die Schweden dringend benötigte, an Stalin verkauft worden.
"Mustergültige" Abschiebeaktion
An der Entscheidung auszuliefern ändern auch die zahlreichen Fälle an Selbstverstümmelung (einer rammt sich selbst einen Bleistift ins Auge) und die Selbstmorde nichts mehr. Am 18. Januar 1946 legt in Trelleborg der russische Frachter "Beloostrov" an; die schwedische Polizei führt eine "mustergültige" Abschiebeaktion durch. Allerdings kommt es auch hier noch einmal zu einem "peinlichen Zwischenfall": Ein junger Lette hatte sich im Autobus die Venen aufgeschnitten und musste auf einer Bahre an Bord getragen werden; und dennoch gelingt es ihm fast, sich im letzten Moment auf den Kai hinab zu stürzen. Enquist schreibt protokollartig knapp:
Zitat
Der zweite Zwischenfall ereignete sich um 13.34, als der lettische Leutnant Peteris Vabulis sich mit einem Messer den Hals aufschnitt und auf der Stelle verstarb. Im Übrigen verlief auch die zweite Phase der Einschiffung ruhig.
In einem bizarren und gespenstisch anmutenden Schlusskapitel - das mit der Frage "Wie misst man die Größe von Tragödien?" beginnt - kehrt der Autor in die Gegenwart des Jahre 1967 zurück.
Nachforschungen in der Sowjetunion
Um herauszufinden, was mit den "heimgeführten" Balten weiter geschah, reist Enquist in die Sowjetunion. In einem Gemisch aus Naivität, Unverfrorenheit und unablässigem Nachfragen gelingt ihm das auch - trotz Überwachung und Manipulation durch die Behörden.
Alle in Riga gewonnen Erkenntnisse werden dabei mit zahllosen relativierenden Fragen und Konjunktiven versehen. Immerhin ist zu erfahren, dass 46 der ehemaligen Legionäre im August 1946 freigelassen, 18 jahrelange Strafen im Gulag abbüßten und etliche Todesurteile vollstreckt wurden.
Noch wichtiger sind aber jene Fragen, die sich der Autor dabei selbst (und dem Leser) stellt:
Zitat
"Gibt es politische Morde, die man leichter akzeptieren kann als andere?", "Kann man Morden abstufen, sodass der sinnlose Mord an einem Juden, ein Mord, der auf Rassenwahn beruht, als schlimmer erscheint als der ideologische Mord an einem Kulaken?"
Als Kulaken galten die "heimgeführten" Balten.
Geschichte und Moral
Was das Buch heute, mehr als 40 Jahre später, noch immer spektakulär macht, ist nicht der Umstand, dass es zur Zeit seines Erscheinens sogleich "widerlegt" wurde: Enquist war es ja nicht nur um eine Auseinandersetzung mit der eigenen, schwedischen Geschichte gegangen, sondern auch um ein Bild der Sowjetunion in der Hochzeit des Kalten Krieges.
Gerade noch um diesbezügliche "Rationalität" bemüht, wurde er durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei, durch die Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Panzerkommunismus, sogleich eines Besseren belehrt. Die "Russen" waren wirklich so schlimm, wie ihre Gegner immer behauptet hatten.
Der ganze Komplex war und ist ein traditionell "rechtes" Thema. Per Olov Enquist hat das Verdienst, als Linker daran nicht nur gescheitert zu sein. Das ist jedenfalls mehr als das Mantra vom "Nie vergessen" und all die mystische Betrachtungen vom Typ "Wer die Geschichte nicht erinnert, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen". "Die Ausgelieferten" sind der beste Beweis dafür, dass es in der Geschichte auch um Moral geht, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Service
Per Olov Enquist, "Die Ausgelieferten", aus dem Schwedischen übersetzt von Hans-Joachim Maass, Carl Hanser Verlag
Hanser Verlag - Per Olov Enquist