Premier unter Verdacht

Sexvideos beherrschen Wahlkampf

Weil sie auf Sexvideos zu sehen sind, haben bereits zehn Oppositionspolitiker den Rücktritt eingereicht. Die Regierungspartei von Recep Tayyip Erdogan könnte davon profitieren. Aber je näher der Parlamentswahltermin in weniger als drei Wochen rückt, umso mehr kommt Erdogan selbst in Bedrängnis.

Mittagsjournal, 24.05.2011

Christian Schüller

Geht Intrige nach hinten los?

Viele türkische Politiker dürften in letzter Zeit schlechter schlafen als sonst. Die Einen, weil sie befürchten müssen, dass auch sie bald mit peinlichen Details aus ihrem Privatleben geoutet werden. Die Anderen, weil sie selbst die Bespitzelung ihrer Kollegen veranlasst haben - und ihre Intrige jetzt nach hinten losgehen könnte. "Es ist deine Aufgabe, die Schuldigen hinter diesen Machenschaften aufzudecken", ruft der Parteiführer der Nationalistischen MHP, Devlet Bahceli, dem Ministerpräsidenten Erdogan zu. Die unfreiwilligen Hauptdarsteller der Sexvideos waren ausschließlich Kandidaten aus Bahcelis Partei. Zehn von ihnen mussten bereits zurücktreten.

Regierungspartei profitiert

Sollte die MHP – geschwächt von dem Skandal – es nicht schaffen ins Parlament kommen, würde in erster Linie Erdogans Regierungspartei AKP profitieren – und dann vielleicht sogar zwei Drittel der Abgeordneten stellen. Recep Erdogan weiß, dass sich daraus ein Verdacht gegen ihn ergeben könnte und bemüht sich neuerdings seine Schadenfreude über den Sex-Skandal zu zügeln. Noch vor wenigen Wochen hatte er dem Parteiführer der Nationalisten öffentlich die Leviten gelesen: "Es gibt Dinge, die nicht sein dürfen. Und wenn jemand einen solchen Fehltritt begangen hat, dann schick ihn einfach weg und sag zu ihm: Das passt nicht zu ihm!"

Erdogan taktiert

Der mächtige Regierungschef, der nach allen Umfragen weit vorne liegt, gebärdet sich gerne als moralisches Vorbild der Nation. Dass seine Gegner am rechten Rand nun vor aller Augen als Ehebrecher dastehen, hat Erdogan zunächst genützt. Doch mittlerweile dreht sich der Wind. Die Bespitzelung und Erpressung von Politikern scheint in der Öffentlichkeit doch schlechter anzukommen als gedacht. Und so prangert der Regierungschef die Urheber der Videobänder neuerdings stärker an als das was auf den Bändern zu sehen ist: "Ich möchte sagen, dass ich das ganz hässlich, ganz schlimm und ganz gefährlich finde, was da passiert. Das kommt von Leuten aus der MHP, die ihre Partei auf diese Weise umkrempeln wollen. Die Führung der MHP soll die Augen öffnen und sehen was für ein Spiel gespielt wird, anstatt uns zu beschuldigen. Lieber unseren Kampf gegen diese Banden unterstützen!“

Machtkampf in eigenen Reihen?

Die Botschaft ist klar und wird von den regierungsnahen Medien auch verbreitet. Wenn nicht der mächtige Regierungschef hinter diesen Machenschaften steht, dann kann es sich nur um einen Machtkampf innerhalb der betroffenen Partei handeln. Es sei denn - auch das wird von Erdogans Seite immer wieder angedeutet - die Sozialdemokraten, die größte Oppositionspartei, haben ihre Hände im Spiel. Schließlich war der frühere Chef der CHP, Denis Baykal, vor einem Jahr ebenfalls über einen Sex-Skandal gestolpert. Somit verdanke der jetzige Oppositionsführer Kilicdaroglu seinen Posten einem schmutzigen Video, insinuiert die regierungsnahe Presse.

Schuldiger in den USA?

Die gegenseitigen Unterstellungen nehmen kein Ende. Nach Meinung der Nationalisten könnte auch der in den USA lebende islamische Gelehrte Fetullah Gülen hinter allem stecken. Schließlich steht er der türkischen Regierung nahe, ist in moralischen Fragen sehr streng – und lebt noch dazu in einem Land, das Sexskandale liebt. "Diese Unterstellungen sind eine Aggression auf die wir nicht mit Aggression antworten, erklärt der fromme Mann dazu in den USA. Wir werden nicht zurückschlagen, nur weil man uns schlägt!"

Verdrängte Themen

Den türkischen Wählern beginnen der Skandal und der Skandal hinter dem Skandal bereits auf die Nerven zu gehen. Die Frage, wer mit wem ins Bett gegangen ist, hat seit Wochen alle wichtigen Themen – die hohe Arbeitslosigkeit, das krasse Bildungsdefizit, den Kurdenkonflikt und die EU-Politik - erfolgreich aus dem Wahlkampf verdrängt.

Mehr zum Thema

ORF.at