Kunst in Kästchen

Clemens J. Setz über Joseph Cornell

"Jeder kennt das, wenn man wieder mal in das Haus seiner Großeltern geht: Man sieht eine Gießkanne und weiß, das ist die Gießkanne von damals. (...) Joseph Cornell hat genau auf diesen Empfindungen Klavierspielen können, er ist ein absoluter Virtuose in diesem Bereich." Der Schriftsteller Clemens Setz über die Kunst des amerikanischen Bildhauers, Malers und Experimentalfilmers Joseph Cornell.

Auf die Frage, ob es in seinem Leben eine Begegnung gab, die seine Wahrnehmung der Welt verändert und ihm die Augen für Neues geöffnet habe, führt Setz den 1972 verstorbenen schrullig-genialen Joseph Cornell an, dem Pullitzer Preisträger Charles Simic eine einfühlsame Hommage gewidmet hat:

"Charles Simic ist ein amerikanischer Lyriker, den ich immer sehr gerne gelesen habe, und das letzte Buch, das ich von ihm gekauft habe, war ein Buch, das auf Deutsch 'Medici Groschengrab' heißt, ein etwas merkwürdiger, rätselhafter Titel. Und darunter steht: 'Die Kunst des Joseph Cornell'."

Clemens J. Setz, Schriftsteller

Ein altes merkwürdiges Gefühl aus der Kindheit wieder holen

Stimmung erzeugen

In Charles Simics Prosa-Gedicht-Band befand sich ein Bildteil mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen von eher schlechter Qualität, so Clemens Setz, darauf waren kleine Holzkästchen zu sehen. In einem dieser Kästchen befand sich eine Puppe mit merkwürdig roten Wangen; in einem anderen sah man einen Holz-Papagei, im Hintergrund befand sich ein Zeitungsausschnitt von einem Grand Hotel mit Namen "Hotel des Universums", das tatsächlich existiert, wie Clemens Setz herausfand. Was den Autor an diesen Collagen faszinierte: Sie konnten eine Wahrnehmung erzeugen, die in Worten eigentlich nicht fassbar ist:

"Joseph Cornell kann etwas, das wahrscheinlich ganz wenige Künstler überhaupt versucht haben, nämlich eine Kombination von Dingen zu finden und eine Stimmung zu erzeugen, die irgendetwas wieder holt, nicht im Sinne einer Wiederholung, sondern etwas wird wieder geholt, ein altes merkwürdiges Gefühl aus der Kindheit. So präzise gibt es das in keiner anderen Kunstform und auch in keiner grafischen visuellen Kunst."

Clemens Setz fühlte sich an rätselhafte frühe Eindrücke erinnert, zugleich jedoch erlebte er diese Erinnerungen in einem völlig anderen Zusammenhang neu. Das Kästchen, nach dem das Buch "Medici Groschengrab" von Charles Simic benannt ist, zeigt einen jungen Prinzen, wahrscheinlich Lorenzo di Medici. Davor ist ein Spielautomat, eine Art einarmiger Bandit, aufgebaut, bei dem die drei Kirschen-Symbole einen Geld-Gewinn anzeigen. Die Bilder sind übereinander geschoben, sodass das Bild des Prinzen hinter dem Automaten hervorragt.

"Wenn man das nur beschreibt, denkt man sich: Aha, eine surrealistische Collage, ein Renaissancefürstenkind - und dazu eine moderne technische Erfindung, Unterhaltungselektronik. Aber dieses Objekt ist ein so rührendes und bewegendes Ding! Man schaut es an und kann eigentlich nur unendliches Mitleid mit dem in seiner merkwürdigen Spiel-Box eingesperrten Prinzen empfinden. Man wird dann selbst zu diesem eingesperrten Prinzen, der da von unten nach oben schaut, mit etwas eingeschüchtertem Fürstenblick, wie es häufig bei berühmten Kindern der Fall ist. Und er ist da in dieser Apparatur drin - es ist schwer zu beschreiben, aber wir sind ja in einem gesegneten Zeitalter, man kann sich alles sofort in Büchern und im Internet anschauen."

Meister der Assemblage

Joseph Cornell gilt als Meister der "Assemblage", der Zusammenstellung von scheinbar beziehungslosen Objekten, die, miteinander in Verbindung gebracht, eine merkwürdige Bildersprache ergeben: "Die Vokabeln, mit denen er seine Bilder sozusagen aufsagt, waren immer ähnlich, immer waren Vögel dabei, immer Grandhotels, Ausschnitte von alten Werbungen, kleine Tänzerinnen, Puppen, Ausschnitte aus Illustrationen von Liebesromanen. Er kommt aus dem Surrealismus, er hat auch zum Beispiel Illustrationen von alten Romanen übereinander geklebt, das hat er dann aber ins Dreidimensionale gehoben, vielleicht kann man sich das so leichter vorstellen."

Joseph Cornell war ein Original, ein Künstler, dessen Leben einzig seiner Leidenschaft gewidmet war: dem Sammeln von Dingen als Momentaufnahmen des Alltags. Fündig wurde Cornell in Antiquariaten, Trödelläden oder auf Flohmärkten. Gegen Ende seines Lebens war im Haus des Künstlers eine kaum überschaubare Sammlung aus eigenartigen Objekten entstanden, gleichsam ein Archiv für das Treibgut der Zivilisation: "Eine Schaumpfeife, ein Astronomie-Bauset, eine alte Mondkarte, alte Bilder von Ballonfahrten, wo Menschen mit Schnurrbärten und Zylindern darauf sind; alte Zigarrenkästen mit Kolonialwarenhändlerwerbungen darauf. Das sind Dinge aus einer Welt, die immer ein merkwürdig brausendes Fernweh-Kindheitsgefühl erzeugen."

Das Objekt trifft "mitten in die Seele"

Cornells Atelier war sein Keller. Manchmal stellte er seine Arbeiten aus, manchmal verkaufte oder verschenkte er sie, manchmal stellte er sie einfach ins Regal. Bis zu seinem Lebensende lebte er im Haus seiner Mutter. "Er hat einen Bruder gehabt, der mit einer Behinderung geboren worden ist, und um diesen Bruder hat er sich die meiste Zeit gekümmert", erzählt Setz. "Nachdem der Bruder gestorben ist, haben sich die Assemblagen geändert, insofern, als sie eine Alchemie des Zurückholens dieses Bruders waren. Diese Objekte sind besonders rührend und wirken wahrnehmungsverändernd."

Joseph Cornells Kunst vermittelt sich aber auch ohne biografische Informationen, betont Schriftsteller Clemens Setz: Man muss nicht wissen, dass Cornell einen Bruder hatte - das Objekt allein trifft den Betrachter mitten in die Seele. Vorausgesetzt man lässt sich sehend darauf ein:

"Es gibt von ihm Tausende Tagebuchseiten, von denen einmal eine Auswahl erschienen ist. Und die sind wie eine Schule des Sehens - wie bei Proust oder bei Handke in seinen 'Journalen'. Man lernt wirklich sehen, auch auf eine sprachliche Weise. Es gibt da zum Beispiel Augenblicke, wo er mit der U-Bahn fährt, und er sieht jeden Tag an derselben Stelle hoch und sieht eine gewisse Aufschrift auf einer Stahlbrücke, und die Augenblicke, wo er jeden Tag denselben Blick in die Höhe macht, verschmelzen zu einem merkwürdigen Raum-Zeit-Punkt, zu einer eigenartigen Singularität. Oder er beschreibt den Schatten des Briefträgers auf seinen Stufen, er sieht ihn von der Küche aus, und der Schatten ist im Morgenlicht blau und vermischt sich mit der körnigen Struktur der Stiegen. Das sind magische Bilder - wie frische Luft oder wie frisches kaltes Wasser für die Sinne. Spinnweben werden weggeblasen, man sieht ganz klar - wie bei den großen Dichtern, bei Rilke oder Handke - das Gewicht der Welt, wo man die klaren, wunderbaren Bilder hat, die einen aufsperren und offenmachen für die Welt."

Am Donnerstag, 28. Juli 2011, liest Clemens Setz im Rahmen der Literatur-Reihe o-töne im Wiener Museumsquartier aus seinem Buch "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes". Darin versucht er - wie einst Joseph Cornell - die Magie des Lebens durch Kunst spürbar zu machen:

"Es kann natürlich im Alltag passieren, dass jemand etwas sieht, das er noch nie vorher gesehen hat, und das etwas in ihm auslöst. Das ist Glück oder eine bemerkenswerte Koinzidenz von mysteriösen Faktoren. Das ist auch etwas Kostbares, aber es ist nicht steuerbar. Und Kunst ist, dass man diesen Augenblick steuern kann."