Zum 90. Geburtstag von Ilse Aichinger

Vom ewigen Leben vor dem Tod

Am liebsten, sagt Ilse Aichinger, wäre sie niemals geboren worden. Am zweitliebsten wäre sie schon längst wieder in die Nichtexistenz verschwunden. Am liebsten würde sie im Kino sterben, allerdings bei einem schlechten Film. Ein guter Film könnte sie dazu verführen, ihn nochmals sehen zu wollen.

Am liebsten würde sie tot sein, ohne vorher sterben zu müssen, denn Sterben sei unlustig. Und wenn sie schon sterben müsse, dann hoffentlich schnell. Danach würde sie das Gefühl der Nichtexistenz gerne auskosten. Das wäre einerseits ein Triumph. Anderseits aber ein Indiz dafür, dass sie nach ihrem Tod noch immer existiert, also ein Misserfolg.

Paradoxe Sätze wie diese sagt und schreibt Ilse Aichinger seit Jahrzehnten. Unter anderem in einem Gespräch für die "Tonspuren", die vor zehn Jahren zu ihrem 80. Geburtstag ausgestrahlt wurden.

"Kein Kanonenfutter"

Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 mit ihrer Zwillingsschwester Helga in Wien geboren. Die Mutter freut sich, dass sie zwei Mädchen zur Welt gebracht hat. "Immerhin kein Kanonenfutter", sagt sie kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs und ahnt schon den Zweiten. Sie ist jüdischer Abstammung, und sie ist Ärztin. Eine von insgesamt 21 Frauen, die ab 1900 im antisemitischen, frauenfeindlichen Wien zum Medizinstudium zugelassen wurden.

Der Vater ist Lehrer und ganz und gar nicht mit dem Gestapo-Mann identisch, der in Ilse Aichingers berühmtem, 1948 erschienenen Roman "Die größere Hoffnung" seine Tochter Ellen und ihre jüdischen Freunde verfolgt - Kinder, die auf dem jüdischen Friedhof spielen, ihrem letzten Zufluchtsort, weil sie aus den öffentlichen Parks verbannt wurden. Ellen ist Halbjüdin. Sie müsste den Judenstern nicht tragen. Sie tut es aus Solidarität mit ihren Freunden.

Sprache neu erfinden

Auch Ilse Aichinger ist in der Diktion der rassistischen Nürnberger Gesetze "Halbjüdin". Als solche bleibt sie im Lande, um ihre Mutter vor der Deportation zu schützen, während ihre Zwillingsschwester mit einem Kindertransport nach England fliehen konnte. Ellen im Roman verliert, wie Ilse Aichinger, ihre geliebte Großmutter. Die Großmutter im Roman stirbt durch Selbstmord, die in der Realität wird deportiert und ermordet.

"Die größere Hoffnung" ist der erste deutschsprachige Roman der Nachkriegszeit, in dem die Vernichtung der Juden thematisiert wird. In einer Sprache, die nach den Deformationen der Nazizeit erst wieder neu erfunden werden musste. Worte wie Nationalsozialismus, Judentum, Konzentrationslager werden vermieden, eigene Erfahrungen literarisch verwandelt.

Literarisches Denkmal für den Vater

Aichingers Vater war kein Nazi, sondern ein weltfremder Büchermensch, der alle verfügbaren Ausgaben seines Lieblingsautors Adalbert Stifter kaufte - auch wenn die Familie daneben fast verhungert wäre. "Nicht er hatte die Bücher", sagt Ilse Aichinger durchaus verständnisvoll, "die Bücher hatten ihn." Aichinger hat auch für die Mutter Verständnis, die sich 1927, als die Zwillinge gerade sechs Jahre alt waren, von ihrem Mann scheiden ließ.

Der Vater kümmerte sich auch danach und während des Krieges, soweit es ihm möglich war, um die Familie. Ilse Aichinger hat ihm in dem Text "Mein Vater aus Stroh" ein Denkmal gesetzt - ein verschlüsselter, experimenteller Text, wie vieles, das Ilse Aichinger durch die Jahrzehnte geschrieben hat. Berühmt aber wurde sie mit der "Spiegelgeschichte", die im Jahr 1952 den Preis der Gruppe 47 erhielt. Das Leben eines nach einer Abtreibung im Sterben liegenden Mädchens wird in Dialogform retrospektiv aufgerollt.

Preisregen

Nach diesem Erfolg war Ilse Aichinger Darling der damaligen Literaturszene. 1953 heiratete sie den Schriftsteller Günter Eich - den bescheidensten und unauffälligsten aller Kollegen -, der bereits 1972 starb. Wie ihr Mann machte auch sie mit Hörspielen Furore und hat für ihr Werk fast alle Preise gewonnen, die man bekommen kann. Nur der Georg-Büchner-Preis wurde ihr bis heute verwehrt.

Nach Jahren in Deutschland und in Großgmain bei Salzburg kehrte Aichinger 1988 nach Wien zurück. 1998 kam ihr Sohn, der Schriftsteller Clemens Eich, bei einem Unfall ums Leben. 2004 starb Richard Reichensperger, ihr persönlicher Betreuer, Freund und bester Kenner ihres Werks.

Totaler Kinofan

Heute sitzt Ilse Aichinger im Rollstuhl. Solange sie konnte, ging sie mehrmals täglich ins Kino und zog, gehüllt in einen überdimensionalen Trenchcoat und bewaffnet mit einem Plastiksackerl, durch die Kaffeehäuser der Stadt. Man hätte sie für eine Strotterin halten können. Viele suchten das Gespräch mit ihr, zu dem sie immer bereit war - nicht aus Freude darüber, erkannt zu werden, sondern, wie sie selbst sagte, weil es ihr die Zeit bis zum ersehnten Verschwinden vertrieb. Wer mit ihr gesprochen hat, bekam nicht nur ihre radikale Denkweise zu hören, sondern auch ihre Liebe zu den Verlierern der Wohlstandsgesellschaft und ihre paradoxe Lebenslust zu spüren.