Berührende Reich-Ranicki-Rede

Auschwitz-Gedenken in Berlin

Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch Truppen der Roten Armee jährt sich am 27. Jänner 2012 zum 67. Mal. Als internationaler Gedenktag an die Schrecken der Massenvernichtung im nationalsozialistischen Regime wird dieser Tag weltweit begangen. Bei der Gedenkfeier in Berlin hat der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gesprochen. Er hat die Judenverfolgung selbst nur um ein Haar überlebt.

Mittagsjournal, 27.1.2012

Persönliche Schilderung

Mit Klavierklängen von Chopin beginnt die Gedenkstunde im Berliner Reichstag. Der Mann, der heute hier als Zeitzeuge spricht, ist 91 Jahre alt und körperlich schon geschwächt. Er wird gestützt auf seinem Weg zum Rednerpult, die zwei Herren, die ihn stützen, sind der Bundespräsident und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Die Bundeskanzlerin mit ihrer Regierung, Prominenz aus allen Sparten des öffentlichen Lebens, religiöse Würdenträger, sie alle hören dem 91-jährigen Marcel Reich-Ranicki zu, bei seiner sehr persönlichen Schilderung von unmittelbar Erlebtem.

Millionenfacher Mord

Marcel Reich-Ranicki hatte das Gymnasium in Berlin abgeschlossen, war danach von den Nazis nach Polen abgeschoben worden und diente als Übersetzer und Schreiber beim "Judenrat", der den Nazis unterstellten Scheinselbstverwaltung im Warschauer Ghetto. Er wurde im Juli des Jahres 1942 herbeigerufen, um eine Reihe von Befehlen aufzuschreiben, die SS-Sturmbannführer Hermann Höfle, ein gebürtiger Österreicher, an die Ghettobewohner richtete. Es war der Beginn der Aktion Reinhardt, der organsierten Verschleppung von Juden in die Vernichtungslager zur millionenfachen Tötung.

"Der Tod war das einzige Ziel"

Auch Marcel Reich-Ranickis Eltern und sein Bruder wurden ermordet. Er selbst überlebte die erste Vernichtungsaktion, weil er dem "Judenrat" angehörte. Später konnte er sich unter abenteuerlichen Umständen verstecken. Als Literaturpapst wurde er Jahrzehnte später im deutschsprachigen Raum weitum bekannt. Aber heute im Bundestag spricht er als einer, der sich nur mit knapper Not vor dem industrialisierten Massenmord retten konnte: "Was die Umsiedlung der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung - die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod."

Anerkennung für Kämpfer gegen Neonazis

Schon vor Reich-Ranickis bewegender Rede hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert den aktuellen Bezug hergestellt, zum Schock darüber, dass eine Nazi-Terrorgruppe jahrelang unerkannt Morde an Ausländern begehen konnte, und zur Anerkennung für Menschen, die sich heute neonazistischen Umtrieben in den Weg stellen: "Jeden Tag stellen sich überall in Deutschland Bürgerinnen und Bürger dafür ein. Da sind einzelne Vereine, ganze Dörfer, das sind Menschen, die den Rechtsextremen, die durch ihre Städte marschieren wollen, immer wieder entgegentreten und zeigen: Wir dulden eure Diffamierungen, euren Hass nicht." Deutliche Ansage nennt man so etwas landläufig in Berlin. Unmissverständlich, aber dennoch nicht von allen verstanden.