Tunesien: "Spaltung nur herbeigeredet"

Die Ermordung des tunesischen Oppositionspolitikers Chokri Belaid hat Tunesien in eine tiefe politische Krise gestürzt: Massenproteste, Rücktritt von Premier Jebali und Ernennung des neuen Regierungschefs Larayed. Ein wichtiger Mitspieler auf dem tunesischen politischen Parkett, Parlamentspräsident Mustapha Ben Jaabar, geht davon aus, dass diese Phase vorübergeht.

Mittagsjournal, 27.2.2013

Was wird aus dem Frühling?

Die laizistische Opposition bezichtigt aber weiterhin die regierende islamische Ennahda-Partei für das Attentat an ihrem politischen Führer verantwortlich zu sein. Wohin triftet das Land, in dem der Arabische Frühling begonnen hat? Am Rande der jetzigen UN-Konferenz zum Dialog der Kulturen in Wien hat Mustapha Ben Jaabar im Ö1 Interivew dazu Stellung genommen.

Genau genommen ist Mustapha Ben Jaafar Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Tunesiens, wie es offiziell heißt, also Präsident jenes Übergangsparlaments, dessen vorrangige Aufgabe es ist, für das Land nach der Revolution eine neue Verfassung auszuarbeiten. Ben Jaafar ist aber auch Vorsitzender der Sozialisten Partei, und sitzt so mit der islamischen Ennahda-Partei in der derzeitigen Übergangsregierung.

"Keine Spaltung der Gesellschaft"

Die politische Krise in Tunesien sieht Mustapha Ben Jaafar als vorübergehendes Phänomen. Nach einer Revolution dauere es eben, bis sich ein Land konsolidiert. Von einer Spaltung der Gesellschaft in Islamisten und Laizisten, wie dies oft dargestellt werde, will er nichts wissen: "Diese Kluft ist künstlich, sie wird von politischen Kräften herbeigeredet. Sie dürfen nicht vergessen, wir befinden uns in einem Wahlkampf. Vor Jahresende noch wird es Wahlen geben, die die Übergangsregierung ersetzen wird. Viele Parteien spielen deshalb mit diesem Bild der gespaltenen Gesellschaft, um zu punkten, aber das ist, wie gesagt, künstlich."

Tunesien sei dafür viel zu homogen. In einem Land, in dem 97 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, sei die Frage, wie sehr bist du Moslem oder nicht, also die Identitätsfrage, überflüssig, so Mustapha Ben Jaafar. Aber natürlich dürfe man die Ängste der Menschen vor einer Islamisierung des Landes nicht verharmlosen: "Wir müssen genau aufpassen, was passiert. Das stimmt. Ich will keine betäubte tunesische Gesellschaft, die dann plötzlich aufwacht und sich in einer archaischen Gesellschaft des Mittelalters befindet. Aber ich habe starkes Vertrauen in die tunesische Gesellschaft, dass sie ein Modell entwickelt mit einem Islam der Aufklärung."

Für Expertenregierung

Die Ermordung von Oppositionsführer Chokri Belaid war eine Tragödie. Er hoffe, die letzte im Tunesien nach der Revolution, sagt Ben Jaafar. Dieses Attentat stelle aber auch einen Wendepunkt dar, meint Ben Jaafar. Premier Jebali ist zurückgetreten, weil sein Vorschlag einer Expertenregierung von seiner Ennahda-Partei abgelehnt wurde, jetzt muss der neue Premier Ali Larayed bis nächste Woche eine Übergangsregierung bilden. Seine sozialistische Partei sei prinzipiell bereit, sich wieder an der Regierung zu beteiligen, aber unter neuen Voraussetzungen: "Nach dem 6. Februar, dem Attentat an Chokri Belaid, kann nichts mehr so sein wie früher. Und wir wollen die gute Idee einer Expertenregierung wieder aufgreifen. Möglicherweise kann sie nicht zu hundert Prozent umgesetzt werden, aber wir brauchen eine Regierung mit möglichst breitem Konsens." Um die Öffentlichkeit zu beruhigen, fügt Mustapha Ben Jaafar und zu garantieren, dass die neue tunesische Verfassung wie geplant in den kommenden Monaten auch wirklich verabschiedet werden kann.