Roman von Thomas Stangl

Regeln des Tanzes

Der österreichische Romancier Thomas Stangl ist ein zurückhaltender, eher stiller Mensch – alles andere als ein ambitionierter Selbstvermarkter. Dennoch, oder gerade deswegen: Viele halten den 47-jährigen Wiener für einen der interessantesten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation.

Für seinen Roman "Der einzige Ort" - der Geschichte zweier Timbuktu-Reisender aus der Biedermeierzeit - erhielt Stangl 2004 den "Aspekte"-Literaturpreis. Auch sein zweiter Roman "Ihre Musik" hat gute, zum Teil exzellente Kritiken bekommen. 2011 ist Thomas Stangl mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet worden. Jetzt ist im Droschl-Verlag sein vierter Roman erschienen: "Regeln des Tanzes", eine komplexe Geschichte rund um die Mysterien der japanischen Bhuto-Tanzkunst und die ersten Tage der schwarz-blauen Koalition des Jahres 2000 in Österreich.

Bei den Donnerstagsdemos

Das waren noch Zeiten. Als ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel im Februar 2000 den europäischen Tabubruch wagte und seine Partei in eine Regierungskoalition mit Haiders FPÖ führte, gingen Hunderttausende in Wien auf die Straße, um gegen die schwarz-blaue Koalition zu demonstrieren. Bernhard Henri-Lévy sprach auf dem Heldenplatz zu den empörten Massen, Christoph Schlingensief ließ ein Containerdorf der Marke "Big Brother" vor die Staatsoper nageln und rief die Bevölkerung in einer provokanten Aktion dazu auf, Asylwerber rauszuwählen, und auf den Straßen Wiens marschierten Künstler und Kulturschaffende wie Robert Menasse, Marlene Streeruwitz und Michael Heltau einträchtig neben sozialdemokratischen Gewerkschaftern und auf punkig gestylten Aktivistinnen feministischer Basisgruppen.

Auch der Schriftsteller Thomas Stangl, sonst ein eher introvertierter Mensch, hat seinerzeit an den Demonstrationen gegen Schwarz-Blau teilgenommen, wie eine der zentralen Protagonistinnen seines Romans: "Ich habe das damals auch als eine Art Verpflichtung gesehen, wie auch eine meiner Protagonistinnen. Ich habe auch einiges von meinen Erfahrungen die Protagonistin wieder erleben lassen. Vielleicht nimmt sie auch in einer ähnlichen Form wie ich an diesen Protesten teil: nicht im Zentrum des Geschehens, sondern als eine von vielen Demonstrantinnen. Vielleicht auch immer mit einem Fuß außerhalb des Geschehens stehend und sich selbst beobachtend."

Zwei Schwestern

Die breite Protestbewegung gegen die schwarz-blaue Regierung gibt den zeitgeschichtlichen Rahmen ab für Thomas Stangls komplexen Roman. Im Zentrum des Geschehens stehen zwei ungleiche Schwestern, Andrea und Mona Stanek. Während Mona, eine Tänzerin mit manifestem Hang zur Selbstdestruktion, gegen Ende des Romans hin einen unüberbietbaren Widerstandsakt setzt, eine "acte gratuit", nämlich den öffentlichen Suizid, taucht ihre Schwester Andrea auf eher konventionelle Weise in die wildbewegten Februartage des Jahres 2000 ein.

Ausnahmezustand mit beglückenden Momenten

Seine Protagonistin Andrea, so sieht es Thomas Stangl, erlebt den politischen Ausnahmezustand als beglückende Aneinanderreihung ekstatischer Momente – mit all den Ambivalenzen, die Ekstasen politischer Art mit sich bringen:

"Das ist auch eine gefährliche, zumindest ambivalente Ekstase", sagt Stangl. "In einem bestimmten Moment erschrickt die Protagonistin auch vor sich selbst, als sie merkt, dass sie bereit wäre, Steine zu werfen auf ihr unbekannte Polizisten. Die Ambivalenz des politischen Ausnahmezustands darzustellen, hat mich sehr interessiert; dass es zwischen einer revolutionären Menge im positiven Sinn und einem Lynchmob oft nur ein winziger Schritt ist."

Dass es oft nur einen graduellen Unterschied gibt zwischen Lynchmob und revolutionär enflammierter Masse, lässt sich Thomas Stangls Einschätzung nach immer wieder beobachten: "Wenn man etwa auf den Tahrir-Platz in Kairo schaut, dann sieht man auf der einen Seite die Befreiungs-Euphorie, und wenige Meter davon entfernt, auf dem selben Platz, vergewaltigt irgendein Mob Frauen, die zufällig in ihre Hände geraten. Dieses Nebeneinander des Positivsten und des Furchtbarsten war etwas, das mich in dieser Beschreibung des Ausnahmezustands auch interessiert hat."

Geheimnisvoller Film

In einem Ausnahmezustand befindet sich auch der dritte Protagonist des Stanglschen Romans, ein Wissenschaftler namens Walter Steiner. Nachdem ihm seine Frau den Laufpass gegeben hat, 15 Jahre nach dem Amtsantritt der Schüssel-Haider-Regierung, stürzt Dr. Steiner in eine existenzielle Krise. Sein Leben kommt dem unter Depressionen leidenden Mittsechziger immer leerer, sinnloser, schaler vor.

Auf einer seiner Wanderungen durch Wien findet Dr. Steiner eine rätselhafte Filmdose, in einem Mauerspalt in einem Mietshaus irgendwo im zweiten Bezirk. Er lässt den Film entwickeln und gerät auf diese Weise, erraten, in Kontakt mit der Geschichte von Andrea und Mona, den beiden ungleichen Schwestern des Jahres 2000.

Diese Wendung des Plots wirkt ein wenig konstruiert, aber um so etwas wie realistische Plots ist es Thomas Stangl in seinen Büchern ohnehin am wenigsten zu tun. Stangls Roman lässt sich vielleicht am ehesten verstehen als Tanz der Zeichen und Symbole, als phantasievolles Spiel mit verrätselten Signifikanten und kunstvoll konstruierten Querverweisen, Spiegelungen, enigmatischen Beziehungsgeflechten.

Verbindender Butoh-Tanz

Nicht umsonst spielt das Motiv des Tanzes eine zentrale Rolle in Stangls Roman. Nach dem Tod ihrer Schwester Mona versucht Andrea der Verstorbenen näherzukommen, indem sie sich mit Butoh-Tanz zu beschäftigen beginnt und es, zumindest in den tanzinteressierten Kreisen Wiens, zu einer gewissen Bekanntheit bringt. Am Ende des Buchs, in einem surrealen Finale, betritt auch der unglückliche Dr. Steiner die Bühne eines Wiener Kleinkunsttheaters, um sich zusammen mit Andrea als Buthotänzer zu versuchen und dadurch, irgendwie, auch zu sich selbst zu kommen.

"Butoh-Tanz ist eine Tanzform, die sehr radikal die Körperlichkeit des Tanzes in den Vordergrund stellt", so Stangl. "Einerseits mit Bezug auf japanische Traditionen, andererseits auch unter dem Einfluss europäischer Avantgarde-Tendenzen steht – vor allem von Artauds 'Theater der Grausamkeit'. Mich hat vielleicht vor allem daran interessiert, wie hier ein Versuch radikaler Körperlichkeit zugleich etwas Abstraktes und Individualisierendes bekommt, diese Ambivalenz im Butoh-Tanz hat mich vielleicht dazu gebracht, ihn eine so wichtige Rolle im Buch spielen zu lassen."

Begnadeter Literaturtheoretiker

Thomas Stangl ist ein hochreflektierter Autor, auch in Sachen Literaturtheorie. Seine Studienabschlussarbeit hat der 47-Jährige einst über dekonstruktivistische Literaturtheorie geschrieben, konkret: über Jacques Derrida und Paul de Man und die Bedeutung Walter Benjamins für die erzähltheoretischen Konzeptionen des Dekonstruktivismus.

"In gewisser Weise hat mich dieser theoretische Hintergrund längere Zeit beim Schreiben gehemmt und lange Zeit meine Texte auch scheitern lassen", erzählt Stangl. "Zugleich hat er mir aber auch ermöglicht, meine eigene Form der Literatur zu finden."

Eine Form der Literatur, die vor allem fortgeschrittenen Leserinnen und Lesern ans Herz gelegt sei. Manch einen, viele, wird Stangls Roman eher ratlos zurücklassen. Wer sich allerdings auf die ästhetische Kompromisslosigkeit dieses Texts einlässt, auf die hohe Musikalität der Stanglschen Sprache und das bizarre Setting, das der Autor da auf 280 Seiten entwickelt, für den hält die Lektüre von "Regeln des Tanzes" den einen oder anderen Glücksmoment bereit. Wie hat der alte Zarathustra einst formuliert: "Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden." Thomas Stangl bemüht sich, es dem altpersischen Religionsgründer mit modernen erzählerischen Mitteln gleichzutun.

Service

Thomas Stangl, "Regeln des Tanzes", Droschl-Verlag