Politologin: "Putin hat keine Sanktionen erwartet"
Europa muss die Verhandlungen mit Russland übernehmen, da in den USA die Falken das sagen haben, sagt die Politologin Nina Chruschewa im Gespräch mit Ö1. Sie ist die Urenkelin des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschow. An eine weitere Eskalation der Situation in der Ostukraine glaubt die amerikanisch-russische Politologin nicht.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 19.5.2014
Putin als "weißer Ritter mit nacktem Oberkörper"
Wladimir Putin wolle keinen echten Krieg sondern vor seiner eigenen Bevölkerung als Held dastehen, sagt Nina Chruschewa. Daher werde er die Situation der Ostukraine nicht weiter eskalieren lassen - umso mehr, als sein Ziel erreicht sei. Selbst wenn die Wahlen kommende Woche reibungslos über die Bühne gehen, sei schwer vorstellbar, dass eine neue Regierung stark genug sei, das Land wieder in Ordnung zu bringen, warnt Nina Chruschewa, die an der New School in New York internationale Beziehungen unterrichtet.
Putin habe die Ukraine ausreichend destabilisiert, sie sei für niemanden mehr attraktiv, außer vielleicht aus ideologischen Gründen, meint die Politologin. "Putin könnte jetzt quasi als weißen Ritter angeritten kommen, mit nacktem Oberkörper wie er da so gerne mag, und die Situation retten: Er hat damit begonnen die Aufständischen zu entwaffnen, Russland ist auf einmal nicht mehr so kategorisch gegen die Wahlen. Und plötzlich könnte das Land als Retter dastehen!"
Putin wird das gleiche Schicksal ereilen wie Chruschow
Mit ein Grund dafür seien auch die Sanktionen des Westens. Putin habe nicht damit gerechnet, dass der Westen überhaupt Sanktionen beschließe und er habe auch nicht erwartet, wie sie wirken: Dass plötzlich die Wirtschaft einbreche, dass er der Wirtschaft nicht einfach befehlen könne, weiterzuwachsen, sei für ihn eine Überraschung gewesen. Konkrete Sanktionen gegen konkrete Personen - das sei erfolgversprechend, sagt Chruschewa. "Einer der reichen Oligarchen will seinen Sohn in London besuchen und auf einmal darf er nicht einreisen. Das ist effektiv. Denn das bringt das System schneller zu dem Chruschow-Moment, wo sich die eigenen Leute gegen ihre Führung stellen, weil sie für sie keinen Nutzen mehr hat."
Damit verweist Chruschewa auf ihren Urgroßvater Nikita Chruschow, der 1964 als sowjetischer Führer vom eigenen Politbüro gestürzt wurde - ein Schicksal, das ihrer Meinung nach auch Wladimir Putin früher oder später ereilen wird.
Die EU hätte früher reagieren sollen
Kritik am Umgang mit der Ukraine-Krise übt Chruschewa an den USA. Vor allem konservative Politiker seien froh, mit einem erstarkten Russland die Feindbilder aus Zeiten des Alten Krieges wiederbeleben zu können. Und wenn die USA immer davon reden würden, wie böse Putin sei, führe das in der russischen Bevölkerung - auch bei Regimegegnern - schnell zu einem "Jetzt-erst- recht-Effekt".
"Ich fand die Position der USA in dieser Diskussion eher gefährlich: Es ging mehr darum, Punkte zu sammeln als tatsächlich zu verhandeln. Darum, zu zeigen, dass Putin böse ist und der Westen gut." Die Europäische Union habe viel Zeit verloren, sie hätte Putins Motive früher verstehen müssen, meint die Politologin: "Angela Merkel kennt Putin ja eigentlich gut." So sei Zeit verloren gegangen, denn die Ukraine hätte eigentlich schon seit November Unterstützung bekommen sollen. Aber insgesamt habe die EU viel vernünftiger gehandelt als die USA, sagt Nina Chruschewa, die heute Abend einen Vortrag beim Wiener Kreisky-Forum halten wird.
Ein Russland, das seinen eigenen Weg geht
Europa und die USA müssten sich für längere Zeit auf ein Russland einstellen, das seinen eigenen Weg geht. Schon vor der Krise in der Ukraine habe Wladimir Putin begonnen, seinen "Pakt der neuen Werte" zu errichten, mit Ländern wie dem Iran und gegen den dekadenten Westen. Denn Putin fühle sich vom Westen betrogen: Er habe doch angeboten dass Russland Teil der westlichen Welt werde, dieses Angebot sei aber, aus Sicht des Kreml, brüsk zurückgewiesen worden, meint die Politologin.
Dabei wiederhole Putin einen Fehler, den russische Führer schon seit Jahrhunderten immer wieder begangen hätten: Sie wollten respektierte Führer sein, die auch vom Ausland anerkannt würden. Doch sie würden nicht verstehen, dass man nur zu westlichen Bedingungen - Rechtsstaat, Menschenrechte, Marktwirtschaft - Teil des Westens werden könne. Die russische Geschichte sei gerade dabei, sich wieder einmal zu wiederholen. Und jeder wisse, wie diese schlussendlich ausgegangen sei.