Fliehen aus Afghanistan

Kommen Kriegsflüchtlinge oder Migranten? Und in welche Kategorie fallen die Menschen aus Afghanistan? Jeder vierte, der derzeit nach Europa kommt, stammt aus Afghanistan. Für den Deutschen Innenminister Thomas de Maiziere oft Angehörige der Mittelschicht und oft aus Kabul, die besser zu Hause bleiben sollten - und die man abschieben will. Sie sind aber wirklich in Gefahr, sagt der Afghanistan-Experte der Universität Genf, Alessandro Monsutti.

Morgenjournal, 4.11.2015

Es sind drei unterschiedliche Gruppen, die sich zur Zeit aus Afghanistan auf den Weg nach Europa machen erklärt Alessandro Monsutti, Professor für Anthropologie an der Universität Genf, der unter anderem für die UNO die Migrationsnetzwerke und Flüchtlingsrouten aus Afghanistan erforscht hat.

Erstens junge paschtunische Männer aus dem Süden des Landes, die nicht in den Bürgerkrieg zwischen Taliban und der Regierungsarmee verwickelt werden wollen. Zweitens Angehörige der Volksgruppe der Hazara und drittens die städtische Mittelschicht: „Die Zahl der Leute aus den Städten steigt, Leute die einen Job etwa als Übersetzer oder Fahrer bei NGOs oder ausländischen Streitkräften hatten. Zuerst haben sie ihren Job verloren und jetzt haben sie Angst, aus meiner Sicht absolut begründete Angst, dass an ihnen Vergeltung geübt wird, wenn die Taliban die Städte erobern. So ist es in den 1990ern passiert, als ganz Kabul von den Taliban bestraft worden ist. Ich glaube sie sind wirklich in Gefahr!“

Laut Daten des UNHCR sind 22 Prozent der Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen Afghanen. Die größte Gruppe davon dürften die Hazara sein, die sich aufgrund ihres mongolischen Aussehens sichtbar von den anderen unterscheiden. Als Schiiten sind sie bei den Taliban besonders verhasst, waren aber auch davor eine marginalisierte Randgruppe, die dem afghanischen Staat nicht vertraue und dort keine Zukunft sehe: „Die meisten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge die heute nach Europa kommen stammen aus Afghanistan und die meisten davon sind Hazara, sie sind also deutlich jünger als die anderen und sie haben weniger Geld, obwohl die Familien für ihre Flucht zusammenlegen. Die Hazara schicken ihre Jugend nach Europa und das finde ich sehr besorgniserregend.“

Das Ziel sei dabei nicht unbedingt, dass die Jugendlichen ihre Familie nachholen, sagt Alessandro Monsutti, er habe vielmehr den Eindruck dass die Eltern sich quasi opfern um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Auch viele Hazara, deren Familie seit den 1980ern in den Iran geflüchtet sind, würden sich auf den Weg nach Europa machen, weil sie dort immer stärker unter Druck geraten. Afghanistan sei auf jeden Fall weit davon entfernt ein Land zu sein, in das Flüchtlinge zurückgeschickt werden können: „Es gibt ein gewähltes Parlament, eine Regierung und es scheint ein sicheres Land zu sein, nur ist es das nicht. In einem internationalen Ranking der Gewalt, in dem Gewalt in verschiedenen Ländern verglichen wird ist Afghanistan das einzige, das seit fünf Jahren immer in den Top-3 ist,“ sagt der Afghanistan-Experte Alessandro Monsutti. Eine Ende Fluchtbewegung aus dem Land sei deshalb im Moment nicht absehbar.