Michael Köhlmeier

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Tonspuren

Der Geschichtenerzähler Köhlmeier

Wer ist Michael Köhlmeier? Kaum ein Autor, den ich gelesen habe, verschwindet so hinter seinen Figuren wie er. Zu Sebastian Lukasser, einem jazzaffinen Schriftsteller, sagt er genauso ich wie zu Joel Spazierer, einem notorischen Lügner, Dieb und Mörder. Beide macht er mir beim Lesen beunruhigend sympathisch. Er erzählt von der neunjährigen Yiza, begleitet Winston Churchill und Charlie Chaplin am Strand oder den Heiligen Antonius in den letzten Stunden seines Lebens.

Mit meinem Mikro im Rucksack fahre ich nach Hohenems, um den Geschichtenerzähler zu treffen. Zehn Minuten vor der verabredeten Zeit schlendert eine Gestalt die Straße zu meinem Hotel hinauf. Weißes Hemd, Leinenhose. Ohne Eile kommt er auf mich zu, reicht mir die Hand und fragt: "Bin ich zu spät?"

Heimat und Vergangenheit

Dann zeigt Köhlmeier mir Hohenems. Alles sei voller Erinnerung, "das ist sinnlich gewordene Vergangenheit", sagt er, "und deshalb ist es eine Gemeinheit, den Heimatbegriff auf einen nationalen Begriff umzulegen. Die Vergangenheit ist der sicherste Ort, den wir haben. Und die Zukunft stellen wir uns vor, indem wir die Erinnerung fiktiv fortsetzen." Und schon sind wir beim Geschichtenerzählen.

Als wir bei ihm zu Hause ankommen, öffnet uns die Schriftstellerin Monika Helfer die Tür. Staunend betrete ich eine Art begehbares Kunstwerk. Gebirge von Büchern, gerahmte Fotos von Kindern, Musikern, Dichtern, Freunden, liebevoll arrangiert. Kein Zentimeter Wand ist frei. Man spürt, dass alles seinen Platz hat. Wie bei einer guten Geschichte steht alles mit allem in Beziehung. Auf roten Polstersesseln machen wir es uns bequem. Ich baue mein Mikro auf, Köhlmeier beginnt zu erzählen, und die Zeit steht still.

Ein "Trostessen"

Am nächsten Morgen läutet das Telefon. Ob ich Lust hätte, zum Mittagessen zu kommen? Der berühmte Schriftsteller, der mich gestern am Hotel abholte, heute in T-Shirt, Schürze, den Kochlöffel schwingend. Es duftet nach Thymian und Majoran. Schon der Geruch verrät: Köhlmeier kann kochen. Gemeinsames Essen sei für die Familie immer wichtig gewesen. Viele Gerichte haben eigene Namen. Heute gibt es "Trostessen". Kartoffelpüree mit Haschee, dazu karamellisierte Karotten. "Wenn es eines der Kinder in der Schule gerade schwer hatte, dann gab es mittags manchmal dieses Essen." Auch warmes Apfelmus falle in die Kategorie tröstender Gerichte.

"Wenn ich Dialoge schreibe, sitze ich der Person, die gerade spricht, gegenüber. Sie spricht dann zu mir." Michael Köhlmeier

Köhlmeier serviert, räumt ab, macht Kaffee. Er mache nie Urlaub vom Schreiben, er müsse schreiben, um sich in Balance zu halten. Wir spazieren zum Alten Rhein. Kraftvoll schreitet Köhlmeier aus. Er hat etwas von einem Boxer. Das Haar streng zurückgekämmt, die Fäuste in den Hosentaschen, marschiert er durch Hohenems, als wäre es ein Vorort in der Bronx. Ob die Bilder im Kopf beim Schreiben wie Filmsequenzen auftauchen, frage ich. "Nein. Ein Bild taucht auf, und ich bin in dem Bild drin. Ich gehe darin herum und schau mir alles an. Wenn ich Dialoge schreibe, sitze ich der Person, die gerade spricht, gegenüber. Sie spricht dann zu mir."

Ein neuer Roman

Er mag die Ich-Perspektive, weil sie alles darf. Sie darf Dinge vergessen, Informationen nachliefern. "Und ein Ich darf sagen: Der ist ein Idiot. Ich kann ihn nicht leiden. Ein auktorialer Erzähler dürfte so etwas nie sagen." Und dann erzählt er mir seinen neuen Roman, an dem er gerade schreibt. Diesmal ist der Held übrigens ein Kater. Und mehr verrate ich jetzt nicht.

Text: Janko Hanushevsky, Radioautor und -regisseur