J.M. Coetzee

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Roman

"Der Pole" von J.M. Coetzee

Vor zwanzig Jahren hat der Südafrikaner J. M. Coetzee den Literaturnobelpreis gewonnen. Heuer wurde er 83, von Altersmüdigkeit kann aber keine Rede sein: So hat er 2019 seine Jesus-Trilogie abgeschlossen und jetzt erscheint mit "Der Pole" die Geschichte eines alternden Pianisten, der sich in eine wesentlich jüngere Frau verliebt. Interessant ist, dass Coetzee das Buch noch vor dem englischen Original in Südamerika und auf Spanisch veröffentlicht hat.

Der Protagonist in J.M. Coetzees neuem Roman ist Anfang siebzig, schaut dem schwedischen Schauspieler Max von Sydow ähnlich und interpretiert Chopin auf eine äußerst umstrittene Weise. Kalt und asketisch nämlich, statt romantisch und üppig.

Auch sonst ist der polnische Pianist, der sich nach seinem Konzert in Barcelona nur mit seinem Vornamen Witold vorstellt, weil sein Nachname für seine spanischen Gastgeber kaum auszusprechen ist, ein ausgemergelter Mensch mit einem dürren Temperament. Dennoch entspinnt sich zwischen ihm und der um mehr als zwanzig Jahre jüngeren Beatriz eine ungewöhnliche Beziehung. Überraschenderweise hat Coetzee seinen neuen Roman "Der Pole" zuerst auf Spanisch und bei einem argentinischen Kleinverlag herausgebracht, für ihn "ein Akt des Widerstands gegen die kulturelle Hegemonie des Nordens".

Lust an der Irritation

Die ungleiche Beziehung des über 70-jährigen polnischen Pianisten und der knapp 50-jährigen Katalanin, die Ehefrau und Mutter zweier erwachsener Kinder ist, sorgt beim Leser für einiges Rätselraten. Nicht so, was Witold betrifft, denn seine Faszination für die jüngere ist offensichtlich und kompromisslos. Undurchschaubar bleibt hingegen ihr Interesse an ihm, umso mehr, als sie seinem Werben auf befremdlich emotionslose Weise nachgibt.

"Diese rätselhaften Figuren sind ein wiederkehrendes Motiv bei Coetzee. Er hat offensichtlich Vergnügen daran, seine Leser zu irritieren", so Reinhild Böhnke, die Coetzees Bücher seit 25 Jahren ins Deutsche übersetzt.

Buchumschlag

S. FISCHER VERLAG

Nähe zu Musil

Was die Novelle neben der irritierenden Beatriz besonders macht: Coetzee beobachtet seine Figuren neugierig wie ein Wissenschaftler eine Versuchsanordnung. "Er hat ja einmal gemeint", so Reinhild Böhnke, "dass ihn Romane, die nicht etwas Neues versuchen, langweilen."

Damit hat er etwas mit einem der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller gemeinsam, zu dem Coetzee tatsächlich ein Naheverhältnis empfindet: "Robert Musil hat denselben intellektuellen Hintergrund wie ich. Er studierte Maschinenbau, ich Mathematik. Seine Studien ließen ihn über die Grundlagen unseres Wissens nachdenken, und diese Gedanken versuchte er in seinen Romanen und Erzählungen zur Sprache zu bringen."

In den Augen der anderen

Wie schon in seinem "Tagebuch eines schlimmen Jahres" gibt es auch in "Der Pole" essayistische Einschübe, in denen Coetzee über Chopin, den er für den größten Komponisten der Post-Beethoven Generation hält und über polnische Lyrik nachdenkt. Die Novelle muss in ihrem letzten Drittel nämlich ohne Witold auskommen, denn der stirbt in Warschau, und hinterlässt Beatriz 84 Gedichte, in denen sie eine zentrale Rolle spielt.

Was passiert mit unserem Selbstbild, wenn wir uns aus den Augen der anderen wahrnehmen, wachsen oder schrumpfen wir, werden wir uns fremd oder neu. Schwergewichtige Fragen, die J.M. Coetzee in dieser schlanken Novelle auf leichtfüßige Weise stellt - was schon wieder so irritierend ist, dass Coetzee seine Freude daran hätte.

Service

J.M. Coetzee, "Der Pole", Novelle, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, S. Fischer Verlag

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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