Gedenkende Menschen

Kunihiko Miura/AP/picturedesk.com

Radiokolleg

Hiroshimas Enkel - 80 Jahre Atombombeneinsatz

Yui Aiba, Anthropologin und Enkelin eines Hiroshima-Überlebenden, erforscht die Traumatisierung der hibakusha, der Überlebenden der Atombombenabwürfe. Ihr Großvater, der 1945 Leichen bergen musste, teilt erstmals seine schrecklichen Erlebnisse.

"Als Großvater und ich zum zweiten Mal gemeinsam Hiroshima besuchen, erwähnt er plötzlich einen Kutter", erzählt Yui Aiba. Wir sitzen am Ufer des Motoyasu-Flusses, bei der Atombombenkuppel, dem mahnenden Wahrzeichen der Stadt. "Und dann erzählt er, wie er und seine Kameraden vom Marinekorps zu einem Einsatz aufs Wasser müssen, in die Bucht vor Hiroshima. Wie in Hiroshimas Flüssen treiben auch im Meer Leichen. Die Soldaten hängen sie an das Boot, um sie nicht angreifen zu müssen. Sie sind verfault und voller Maden. Sie ziehen sie an Land. Sie verbrennen sie, solang es Benzin gibt, dann scharren sie sie ein, in Massengräbern."

Ich glaube, sie stürzten sich ins Wasser, sie brannten, die Haut hing ihnen in Fetzen herunter. Sie suchten Linderung und fanden den Tod.

Die Hiroshima-Atombombe vernichtet durch das Zusammenwirken von Hitzestrahlung, Druckwelle und ionisierender Strahlung. Im Epizentrum werden Temperaturen von mehreren tausend Grad Celsius erreicht. Alles verdampft. "Großvater meinte, die Menschen seien durch die Explosionskraft ins Wasser geschleudert worden. Ich glaube, sie stürzten sich ins Wasser, sie brannten, die Haut hing ihnen in Fetzen herunter. Sie suchten Linderung und fanden den Tod."

Erinnerungen eines Hiroshima-Helfers

Großvater erzählt seiner Enkelin Yui Aiba noch mehr. Es ist 2015, 70 Jahre sind seit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki vergangen, da träumt er zum ersten Mal von seinen Rettungsarbeiten in der zerstörten Stadt. Bereits am 7. August 1945 wird er in das Zentrum von Hiroshima beordert, um Verwundeten zu helfen, vor allem aber, um Leichen zu beseitigen. Er tut es mehrere Tage lang, er schläft an Ort und Stelle. Es ist so grauenvoll, dass er weder Angst noch Ekel noch Trauer verspürt. Er spürt gar nichts mehr. Er schaltet die eigenen Gefühle völlig aus. Er will helfen, und er funktioniert.

Daran will er sich später nicht erinnern. Dann aber träumt er, und er ist erleichtert, dass er endlich darüber sprechen kann. Über den entsetzlichen Geruch, der über der Stadt hängt. Dass den Toten die Augäpfel heraushängen, ihre Körper aufgeplatzt sind und das Innere herausgekommen ist. Dass sie keine Hände mehr haben.

Es sind Details, die bis dahin niemand in der Familie gewusst hat, nicht einmal die eigene Ehefrau, Yuis Großmutter, nicht die Tochter, Yuis Mutter. Er habe mit ihr über die Atombombe sprechen wollen, sagt Yui. Damals war sie Volksschülerin, ein Kind. Er zeigte ihr Bücher mit Bildern des ausgelöschten Hiroshima, mit Fotos von Verwundeten, die ihr Angst machten.

Hiroshima als Lebensthema

Yui Aiba ist 1993 geboren. Sie ist ein Atombombenopfer der dritten Generation. Doch so will sie nicht bezeichnet werden. Sie ist Yui Aiba, die als Anthropologin über die Traumatisierung von hibakusha, die Überlebenden der Atombombenabwürfe, forscht. Die Hiroshima zu ihrem Lebensthema gemacht hat. Wir haben uns 2013 in Nagoya kennen gelernt, da war sie meine Studentin. Ich durfte ihren Weg seither kontinuierlich begleiten. "Ich freue mich, dass ich ein normales Leben führe", sagt Yui, "Großvater hat die Schwierigkeiten seines Lebens überwunden, die Diskriminierung, die gesellschaftliche Ächtung, der er als hibakusha ausgesetzt war, seine gesundheitlichen Probleme. Er hat Leben an meine Mutter weitergegeben und diese an mich, darüber bin ich glücklich."

Ende 2019 stirbt der Großvater. Er hat die Publikation von Yuis Buch über die gemeinsame Reise nach Hiroshima noch erlebt. Auf dem letzten Foto, das 2025 immer noch auf dem Hausaltar steht, schaut er glücklich aus.

Text: Judith Brandner