ORF/JOSEPH SCHIMMER
Nationalfeiertag
70 Jahre Neutralität
Als das wieder souveräne Nachkriegsösterreich über seinen Feiertag nachdachte, hätte es auch ganz anders kommen können. Der 12. November als Tag der Ausrufung der Ersten Republik im Jahr 1918 stand ebenso zur Debatte, wie der 15. Mai als Tag der Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955. Schließlich wurde es der Tag der Fahne am 25. Oktober, anlässlich des vollständigen Abzugs der alliierten Truppen aus Österreich. Der heutige Feiertag zur Erinnerung an die Beschlussfassung des Neutralitätsgesetzes am 26. Oktober 1955 besteht erst seit 1965.
25. Oktober 2025, 22:25
Oft wird fälschlicherweise angenommen, dass die Neutralität im österreichischen Staatsvertrag verankert sei. Der am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere unterzeichnete Staatsvertrag beinhaltet jedoch keinerlei Angaben zu dem sicherheitspolitisch angestrebten Status der Neutralität.
Radiokolleg
"Die Neutralität", Gestaltung Johannes Gelich und Ute Maurnböck-Mosser - Alle vier Teile auf Ö1 Sound
Neutralität und Staatsvertrag
Pascal Lottaz, Experte für internationale Beziehungen, erinnert im Ö1 „Radiokolleg“ in diesem Zusammenhang daran, dass Staatsvertrag und Neutralität durch wechselseitigen Vertrauensvorschuss aller Beteiligten zustande gekommen seien. Für den Zeithistoriker Hannes Leidinger war die Abfolge der vertraglichen Beschlüsse eine geschickte Strategie der österreichischen Regierung, die eigene Souveränität zu inszenieren. Der Historiker Oliver Rathkolb will von dem Argument, die Neutralität sei letztendlich der Preis für den Staatsvertrag gewesen, wenig wissen. Für ihn hat der österreichische Neutralitätsstatus schlichtweg den Großmachtinteressen der USA und der Sowjetunion am besten entsprochen.
Zunächst zurück an den Anfang
Bereits 1919 hatte der Staats- und Völkerrechtler Heinrich Lammasch, der letzte Ministerpräsident der Donaumonarchie, den Status der Neutralität für den geschrumpften Staat ins Spiel gebracht.
Der überzeugte Pazifist überreichte Ende März 1919 alliierten Diplomaten in Bern ein Memorandum, in dem er sich für eine neutralisierte, unabhängige Republik aussprach. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Zeit für die Neutralität jedoch noch nicht gekommen.
Vier Phasen auf dem Weg zur Neutralität
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es von Politikern der unterschiedlichsten Couleur immer wieder Vorstöße, einen Neutralitätsstatus nach dem Vorbild der Schweiz anzustreben.
Diese Haltung entsprach durchaus der Meinung vieler Österreicherinnen und Österreicher, hatte die amerikanische Besatzungsmacht doch bereits Anfang März 1947 eine Befragung zu diesem Thema durchgeführt: 78 Prozent der Bevölkerung gaben bei dieser Umfrage an, dass für die Zukunft eine strikte Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz am wünschenswertesten sei.
Für den Zeithistoriker Peter Ruggenthaler waren die Überlegungen über einen möglichen neutralen Status Österreichs zum damaligen Zeitpunkt noch verfrüht. Der Ausbruch des Kalten Kriegs brachte eine völlig neue geopolitische Situation. Neutralität wurde als kommunistische Spinnerei abgetan.
Ab 1952 junktimierte die Sowjetunion die Frage des österreichischen Staatsvertrages mit der Lösung der deutschen Frage. Das Frühjahr 1955 brachte schließlich den entscheidenden Durchbruch.
Nachdem Stalin gestorben, der NATO-Beitritt Deutschlands unumkehrbar geworden war und der neue sowjetische Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, auf Entspannungspolitik setzte, war der Weg für Österreichs Staatsvertrag frei geworden.
Neutralität nach Schweizer Vorbild
Wann immer sich österreichische Politiker nach 1945 zum Staatsvertrag und einer möglichen Neutralität äußerten, führten sie immer wieder die Schweiz als Vorbild an. Man war jedoch von Anfang an bemüht, einen eigenen, weltoffenen Weg einzuschlagen. Österreich war im Gegensatz zur Schweiz von Anfang an in die internationale Staatengemeinschaft eingebunden und trat im Dezember 1955 der UNO und 1956 dem Europarat bei.
Erste Bewährungsprobe 1956
Noch im selben Jahr stand die junge österreichische Neutralität zum ersten Mal im internationalen Kontext auf der Probe, als es im Herbst 1956 in Ungarn zu einem Volksaufstand gegen die kommunistische Diktatur gekommen war. Schnell solidarisierte sich die österreichische Regierung mit den Aufständischen und geriet prompt ins Kreuzfeuer sowjetischer Propaganda. Spekulationen über einen möglichen, neuerlichen Einmarsch der Sowjetunion in Österreich, schob der amerikanische Präsident Eisenhower jedoch einen dezidierten Riegel vor, indem er verlautbarte, die US-Armee würde einem neuerlichen Einmarsch der Sowjetunion nicht tatenlos zusehen.
Ukrainekrieg und die Folgen
Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges 2022 wurden bald Stimmen laut, die aufgrund der neuen Bedrohungslage die Abschaffung der Neutralität forderten. Ex-Nationalratspräsident Andreas Khol etwa plädierte kurzerhand für einen NATO-Beitritt mit der Argumentation, ein neutraler oder bündnisloser Staat bleibe allein, wenn er angegriffen werde.
In den ehedem neutralen Staaten Finnland und Schweden sah man das ähnlich und trat 2023 bzw. 2024 der NATO bei. Der Schritt erfolgte in beiden Ländern mit überwiegender Zustimmung der Bevölkerung und politischen Kräfte. Genau diesen Prozess, sagt Brigadier in Ruhe, Walter Feichtinger, habe es bei uns nicht gegeben.
Leistungsschau des österreichischen Bundesheers am Wiener Heldenplatz im Jahr 2024
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Weiterhin hohe Zustimmungswerte zur Neutralität
Für 80 Prozent der österreichischen Bevölkerung ist die Neutralität Teil der österreichischen Identität, wiewohl die jüngere Generation den Zusammenhang zwischen Neutralität und Identität etwas relativierter sieht. Das hat die jüngste Untersuchung des Austrian Foreign Policy Panel Project (AFP3) ergeben. Das Team um Martin Senn von der Universität Innsbruck erhebt in Kooperation mit dem Außenministerium seit 2023 die Einstellungen der österreichischen Bevölkerung zur Außen- und Sicherheitspolitik - und damit auch zur Neutralität.
Debatte über Österreichs künftige Sicherheitspolitik
„Was erwarten wir denn überhaupt von der Neutralität?“, fragt Walter Feichtinger im Ö1 „Radiokolleg“. Der mittlerweile pensionierte Brigadier leitete 20 Jahre lang das Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement. Militärisch betrachtet mache sie für ihn keinen Sinn und er verweist nicht nur auf die historischen Durchmarschpläne der Warschauer-Pakt-Staaten im Kalten Krieg, sondern auch auf jüngste Drohungen Russlands.
Auch der österreichische Rechtswissenschaftler und Diplomat, Franz Cede, wünscht sich eine ernsthafte und offene Diskussion. Er gehört zu den Unterstützern der Online-Plattform Unseresicherheit.org, die bereits einen offenen Brief an den Bundespräsidenten, den Nationalrat und die Bevölkerung Österreichs sandten, um eine Debatte über Österreichs künftige Sicherheitspolitik anzustoßen.
Das Wesen der Neutralität diskutierte Franz Cede gemeinsam Ralph Janik, Assistenzprofessor an der Sigmund Freud Privatuniversität, in der Ö1 Sendung "Punkt eins" mit dem Publikum:
EU, NATO, Neutralität?
Würde ein EU-Land von einem äußeren Feind angegriffen werden, wäre Österreich nicht zu militärischem Beistand verpflichtet. Im Falle einer Aggression gegen Österreich müssten nicht-neutrale Staaten Österreich sehr wohl zu Hilfe eilen. Auf diese schizophräne Situation weist Janik, auch zuletzt im Ö1 Mittagsjournal hin:
Eine gesamteuropäische Verteidigungsstrategie scheint rational, aber unwahrscheinlich, ein möglicher NATO-Beitritt Österreichs im Moment kein Thema.
Der pensionierte Bundesheergeneral und Gründungsmitglied der Initiative Engagierte Neutralität Günther Greindl sieht einen NATO-Beitritt Österreichs jedenfalls kritisch. Die NATO sei kein Selbstverteidigungsbündnis mehr, sondern bereite sich im Einklang mit der amerikanischen Sicherheitsstrategie auf weltweite Einsätze vor.
Die Forderung nach einer aktiven Neutralitätspolitik, wie sie etwa SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky in den 1970er Jahren betrieben hatte, läuft hingegen für Ex-Brigadier Feichtinger ins Leere: „Das ist in dieser Phase des geopolitischen Umbruchs einfach nicht gefordert und nicht gewünscht von vielen.“
