Hannah Arendt und Gershom Scholem

Der Briefwechsel: 1939-1964

Auf dem Boden einer Freundschaft wurden zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem harte intellektuelle Kontroversen ausgetragen, angriffslustig, leidenschaftlich und durchaus schonungslos in der Wortwahl - so Scholem, nüchtern und sachlich die Angriffe parierend, zuweilen mit sarkastischem Unterton - so Arendt.

Der Eichmann-Prozess

Jerusalem 1963: Gershom Scholem an Hannah Arendt, deren Bericht über den Eichmann-Prozess gerade erschienen ist:

Nach der Lektüre Ihres Buches bin ich von der Banalität des Bösen, auf dessen Herausarbeitung es Ihnen, wenn man dem Untertitel glauben sollte, angekommen ist, in keiner Weise überzeugt. Es erscheint diese Banalität auch eher als ein Schlagwort denn als das Resultat einer so eingreifenden Analyse, wie Sie sie, unter ganz entgegengesetzten Vorzeichen, in Ihrem Buch über den Totalitarismus auf weit überzeugendere Weise gegeben haben. Damals hatten Sie anscheinend noch nicht entdeckt, dass das Böse das Banale sei. Von dem radikal Bösen, von dem Ihre damalige Analyse beredtes Zeugnis und Wissen ablegte, hat sich die Spur nun in einem Schlagwort verloren, das in der Lehre von der politischen Moral oder der Moralphilosophie doch wohl in andere Tiefe eingeführt werden musste, wenn es mehr sein soll als das. Es tut mir leid, dass ich in ehrlicher und freundschaftlicher Gesinnung gegen Sie nichts Positiveres zu den Thesen Ihres Buches vorbringen kann.

New York 1963: Hannah Arendt an Gershom Scholem:

Sie haben vollkommen Recht, I changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen. (...) Ich bin in der Tat heute der Meinung, dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. Es kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche weiterwuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute.

Im selben Brief greift Hannah Arendt Scholems Vorschlag auf, und stimmt der Veröffentlichung ihrer Kontroverse zu:

Sie schlagen vor, Ihren Brief zu veröffentlichen und fragen mich, ob ich etwas dagegen habe. Ich möchte von einer Transformation in die dritte Person abraten. Der Wert dieser Auseinandersetzung besteht darin, dass sie Briefcharakter hat und auf dem Boden der Freundschaft geführt wird. Wenn Sie also bereit sind, Ihren Brief mit meiner Antwort zugleich zu veröffentlichen, so habe ich selbstverständlich nichts dagegen. Aber lassen wir es bei der Briefform.

Freundschaft und Zerwürfnis

Über die Unterschiedlichkeit ihrer Standpunkte in sensiblen politischen und jüdischen Fragen konnte sich Scholem heftig ereifern, zum ersten Mal 1946 aufflammen: anlässlich Arendts Aufsatz "Zionism Reconsidered" zur politischen Zukunft Palästinas, als er sich von Arendts Zionismus-Kritik enttäuscht zeigte.

Damals überlebte der Schlagabtausch die Freundschaft. Die harsche Kritik, die Scholem dann 1963 an Arendts Eichmann-Report übte, an ihrer Kritik an der Rolle der Judenräte in der Shoah und die Darstellung des Eichmann-Prozesses als Banalisierung der Vernichtungspolitik überhaupt, führte trotz Veröffentlichung der Kontroverse auf dem Boden der Freundschaft dennoch zum Zerwürfnis.

Konflike und Verbindendes

Gute 25 Jahre lang dauerte die Korrespondenz zwischen Scholem und Arendt und die Veröffentlichung des Briefwechsels in ihrer Gesamtheit gibt nun erstmals ein umfassendes Bild von dieser Beziehung und setzt neben den Dialog der "Freundschaft voller Konflikte und Streitpunkte", wie Scholem einmal schrieb, neue Akzente: Da tritt das Verbindende dieser in ihrer geistigen Ausrichtung auf den ersten Blick so ungleichen Briefpartner in ein neues Licht: Verbindend wirkten ihr Nachdenken über das jüdische Selbstverständnis und dessen Fortbestehen unter den existenzbedrohenden Erfahrungen der Epoche, in der Suche nach dem neuen Aufbruch nach einer gescheiterten Geschichte, einer kulturellen Erneuerung des Judentums, Verbindung schafft auch das jüdische Lebensgefühl unmittelbar nach der Shoah:

Arendt: In einem gewissen Sinn bin ich natürlich erleichtert, weil ich sehe, dass dies die Sintflut ist, nachdem die Welt untergegangen ist. Nun sitzen wir also, die paar Überlebenden (die wir ja nicht eigentlich etwas dafür können, dass wir noch am Leben sind, und daher wieder - nicht froh - aber gewiss werden sollten) wie Noah in seiner Arche, in der wir noch nicht einmal das Nötigste haben retten können; schlimmer ist, dass wir paar Noahs auch mit dem zusätzlichen Ungeschick behaftet scheinen, unsere Archen genau aneinander vorbei ins Nicht-Treffbare zu steuern. Und wenn ich auch dagegen bin, alle Noahs in eine Arche zu bringen, was leider angesichts der geringen Zahl derer, die wissen, was los ist, ein Leichtes wäre, so hätte ich es doch mehr als gerne gesehen, wenn man ein paar Schiffchen aneinander hätte binden können oder wenigstens so steuern, dass man sich noch Hallo und Wie geht's zurufen kann.

Ach Gerhard, flicken Sie sich Ihr Herz wieder zusammen. Machen Sie es wie Odysseus; dem konnten die Götter auch nur ein untreffbares Herz geben, weil er so voller Listen es sich immer wieder erneute. Sie wissen doch, dass dies noch nicht das Ende ist; es kann doch immer noch schlimmer kommen. Und selbst das Ende sollte man imstande sein zu überstehen (das heißt nicht unbedingt zu überleben).

Gemeinsame Freundschaft mit Walter Benjamin

Der Briefwechsel wurde 1938 nach einer persönlichen Begegnung in Paris aufgenommen. Scholem befand sich auf der Durchreise, um seinen Jugendfreund Walter Benjamin zu treffen, Arendt lebte dort mit ihrem Mann Heinrich Blücher im Exil, und man hatte sich ebenfalls mit Walter Benjamin befreundet.

An Themen, über die man in Paris ins Gespräch gekommen war, Scholems Mystik-Forschung und Arendts Buch über Rahel Varnhagen wurde in der nun folgenden Korrespondenz wieder angeknüpft. Auch die gemeinsame Freundschaft mit Walter Benjamin wirkte weit über dessen Freitod 1940 hinaus verbindend: Es war Hannah Arnedt, die Scholem von Walter Benjamins Tod in Kenntnis setzte, aus ihrem Brief erfahren wir Einzelheiten aus seinen letzten Lebensmonaten.

Benjamins Name steht im Folgenden wie eine große Klammer über dieser freundschaftlichen Zuneigung und den Austausch, es gab gemeinsame Pläne und vielfache Anstrengungen zu Editionsprojekten seines Nachlasses, die zwar nicht zustande kamen, aber den Weg für eine spätere Überlieferung seiner Schriften ebneten.

Der Briefwechsel zwischen Arendt und Scholem dokumentiert auch ein Stück Zeitgeschichte: Scholem wie Arendt engagierten sich für die Rettung der im "Dritten Reich" geraubten jüdischen Kulturgüter im Auftrag der Organisation Jewish Cultural Reconstruction, beide reisten ins Nachkriegsdeutschland und Hannah Arendts bislang unveröffentlichter Reisebericht aus dem Jahr 1949/50 ist unter den Dokumenten des Bandes versammelt.

Ein Ticket für das Herz

Auch sehr lyrische Passagen findet man in diesem Dialog über zwei Kontinente, die den Brief zum Ausdruck der erhofften Begegnung werden lassen, etwa wenn Arendt 1946 an Scholem schreibt:

My heart goes out to you - das heißt, da es keinen Pass braucht und kein Geld und keinen "Urlaub", hat es sich ein Ticket genommen und segelt friedfertig in der Touristenklasse nach Palästina. Sie werden sich dann in Haifa an den Hafen stellen und dafür sorgen, dass man es nicht an Land lässt.

Service

Hannah Arendt, Gershom Scholem, "Der Briefwechsel: 1939-1964", Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

Suhrkamp - Der Briefwechsel