GB: Radikaler Umbau des Wohlfahrtstaates

In Großbritannien hat die konservative Regierung von Premierminister David Cameron den größten Umbau des Sozialstaates in 60 Jahren eingeleitet. Bis Ende April treten insgesamt sechs verschiedene Reformen in Kraft. Wirtschaftswissenschaftler schätzen, dass sie umgerechnet knapp 4 Milliarden Euro jährlich an Einsparungen bringen werden. Für Millionen britischer Haushalte bedeuten sie Kürzungen beim Mietzuschuss, eine Deckelung der Sozialhilfe und strengere Kontrollen für Empfänger von Berufsunfähigkeitspensionen.

Mittagsjournal, 4.4.2013

Aus London,

Die öffentliche Debatte um den Sozialstaat spaltet Großbritannien. Labour Opposition, Kirchen und karitative Organisationen kritisieren die Sozialreform heftig, sie sei ungerecht und führe zu mehr Kinderarmut. In Meinungsumfragen unterstützt aber eine Mehrheit der Briten diese Einsparungen. Viele sind der Meinung, die staatlichen Hilfen seien zu hoch und hielten die Empfänger davon ab, sich Arbeit zu suchen.

Versuch einer Umerziehung

Sozialhilfeempfänger in Großbritannien müssen endlich wieder Verantwortung für ihr Leben übernehmen, anstatt sich auf den Staat zu verlassen, sagt die Regierung von Premierminister David Cameron. Der größte Umbau seit Gründung des Sozialstaats nach dem zweiten Weltkrieg ist zugleich der Versuch einer Umerziehung. Herzstück der Reform ist die Vereinfachung des Sozialsystems. Der sogenannte Universal Credit, eine einmalige monatliche Zahlung ersetzt ein Sammelsurium von 6 staatlichen Hilfsleistungen. Vertreter von Sozialmietervereinigungen wie Jo Bennett befürchten, dass dadurch die Verschuldung dieser Haushalte ansteigen wird: „Es wird für viele schwer werden. Die Leute waren gewöhnt zwei Mal monatlich ihre Beihilfen zu bekommen, wenn sie kein Geld mehr hatten mussten sie nicht lange auf die nächste Überweisung warten, viele sind verschuldet, sie werden nun teure Kleinkredite aufnehmen.“

Der Universal Credit kann zudem nur online beantragt werden, eine große Hürde für viele Arbeitslose, wie Anne-Marie Tootill. Sie hat noch nie einen Computer verwendet: Es wird heikel werden. Ich besitze keinen Computer, ich werde in die Bücherei gehen müssen, ich hoffe mit etwas Hilfe schaffe ich es.“

Arbeitslose Familien sind Verlierer

In Pilotprojekten beginnen die Gemeinden zudem Mietbeihilfen direkt an die Mieter anstatt den Vermieter zu zahlen. Mehr Eigenverantwortung sei eine gute Vorbereitung auf einen Wiedereinstieg ins Berufsleben sagt die britische Regierung. Geschätzte 660.000 Haushalte müssen damit rechnen, weniger Mietzuschuss zu bekommen, wenn ihre Wohnung als zu geräumig eingestuft wird und Zuwendungen für Familien werden auf 589 Euro wöchentlich begrenzt, egal wie viele Kinder im Haushalt leben. Ian Mulheirn Ökonom und der Direktor der Social Market Foundation über die Gewinner und Verlierer: „Arbeitende Familien mit gutem Einkommen profitieren von diesen Änderungen. Manche Niedrigverdiener, die auf Beihilfen angewiesen sind, werden schlechter dran sein, andere wiederum besser. Am härtesten trifft es die arbeitslosen Familien, sie verlieren am meisten.“

Gemeinden in London, wo die Mieten besonders hoch sind, warnen vor massiven Kosten für die Steuerzahler, die diese Reform nach sich ziehen könnte. Sie befürchten einen Anstieg der Obdachlosigkeit. Der britische Schatzkanzler bleibt dabei, 9 von 10 arbeitenden Familien seien durch die Reform besser dran: „Wir haben in den vergangenen Tagen offen gesagt viel Mist über diese Sozialreform gehört. Manche sagten das sei das Ende des Sozialstaates, das ist Schlagzeilen heischender Unsinn.“

Die britische Öffentlichkeit scheint zumindest in den Umfragen den Umbau des Sozialstaates zu begrüßen. Mehr als die Hälfte glaubt, die staatlichen Hilfen seien zu hoch: „Eine unangenehme Entscheidung, manche Leute brauchen Hilfe aber andere nicht.“ „Es ist gut wenn die Regierung arbeitende Familien unterstützt.“ „Der Sozialstaat belastet die Wirtschaft, jeder weiß, Leute die kein Geld vom Staat verdienen, haben das System ausgenützt.“ Bis 2017 soll der Großumbau des Sozialsystems abgeschlossen sein, falls Probleme auftauchen, hätte man genügend Zeit sie bis dahin aus der Welt zu schaffen, sagt die britische Regierung.