Politologe: Kiew muss verhandeln

Die Regierung in Kiew sieht den abspaltungswilligen "Volksrepubliken" im Osten der Ukraine mehr oder weniger hilflos zu. Bisher weigert sie sich, mit den Separatisten an einen Verhandlungstisch zu sitzen. Das Land könnte jedoch in einen Bürgerkrieg stürzen, wenn nicht rasch politische Verhandlungen über den Status dieser Regionen stattfinden, warnt der Kiewer Politologe Wladimir Fesenko.

Mittagsjournal, 13.5.2014

"Neues Somalia?"

Die aktuelle Lage im Donbass zeichnet Politologe Wladimir Fesenko in düsteren Farben. Das Gebiet verwandle sich in Kriegsterritorium. Es gebe drei Auswegszenarien: "Entweder verhandeln Vertreter des Donbass mit Kiew über mehr Autonomie, aber beide Seiten sind nicht bereit, Kompromisse zu schließen. Oder der Donbass wird zu einem zweiten Transnistrien. Oder das schlimmste Szenario: Es kommt zu einer Situation wie in Tschetschenien der 90-er Jahre, wo die Wirtschaft am Boden lag, mit Entführungen Geld gemacht wurde und Banditen herrschten. Das wäre ein neues Somalia zwischen der Ukraine und Russland."

Ein großes Problem sieht Fesenko darin, dass es im Donbass keine eindeutigen politischen Machthaber gebe. Es gebe die selbsternannten Volksgouverneure, die gewählten Regionalparlamente und die Oligarchen, und schließlich die Regierung in Kiew. Um dieses Machtvakuum zu überwinden, müssten rasch lokale Wahlen stattfinden, so Fesenko: "Dann gibt es politische Vertreter, die von der Bevölkerung gewählt wurden und im Namen der Region mit der Zentralregierung verhandeln können. Derzeit ist die Situation absurd: Selbsternannte Volksanführer, die nicht gewählt wurden, stehen gewählten Parlamenten gegenüber, denen keiner mehr vertraut."

Kooperation mit Oligarchen nötig

Verhandlungen über den Status der Regionen seien aber schon vor den Neuwahlen nötig, um einen Krieg zu verhindern, meint Fesenko. Weil das Misstrauen zwischen Kiew und den Separatisten aber keinen Dialog zulasse, müssten diesen eben jene führen, die bereit dazu seien. Dazu gehörten auch die Oligarchen, die die Ostukraine de fakto regieren, wie etwa Ukraines reichster Mann Rinat Achmetow. "Es ist paradox, eine der zentralen Forderungen der Demonstranten auf dem Maidan war, die Herrschaft der Oligarchen zu beenden. Aber um jetzt die Einheit des Landes zu bewahren , die soziale und wirtschaftliche Ordnung wieder herzustellen, ist eine taktische Zusammenarbeit mit den ostukrainischen Oligarchen nötig."

Form der friedlichen Koexistenz

Ausgerechnet jetzt den Kampf mit den mächtigen Oligarchen aufzunehmen würde die Ukraine in noch tiefere Probleme stürzen, warnt Fesenko. Doch kann der Zerfall der Ukraine überhaupt noch gestoppt werden? "Unter den aktuellen Bedingungen kann man wohl nicht mehr über einen Einheitsstaat in vollem Umfang verhandeln", meint Fesenko. "Eher über eine Form der friedlichen Koexistenz des Donbass mit dem Rest des Ukraine."

Eine bloße Dezentralisierung, wie sie die Regierung in Kiew anbiete, sei nach den umstrittenen Referenden nicht mehr möglich. Den Beitritt des Donbass zu Russland hält Politologe Fesenko übrigens für nicht wahrscheinlich. Moskau sei eher an einem russischen Protektorat Donbass interessiert, als daran, die Region mit ihrer veralteten Industrie durchzufüttern.