China überdenkt Ein-Kind-Politik - "zu spät"

Die seit 1980 brutal durchgesetzte Ein-Kind-Politik hat zu einer rasanten Alterung der chinesischen Bevölkerung und zu einem dramatischen Ungleichgewicht der Geschlechtercgeführt. In der Generation der unter 20-jährigen gibt es in China um mindestens 30 Millionen mehr Buben als Mädchen, was für sozialen Sprengstoff sorgt. Die seit Jahresbeginn geltende Lockerung der Ein-Kind-Politik komme zu spät, sagen Experten.

Mittagsjournal, 13.6.2014

Unfreiwillige Junggesellen

In Chinas Megastädten gibt es keine Slums, sagt die staatliche Propaganda. Doch es stimmt nicht. 500.000 Menschen ziehen jedes Jahr im Schnitt etwa nach Peking. Und viele wohnen in heruntergekommen Vierteln, wo die Mieten günstig sind. Im Norden Pekings, am Rande eines verdreckten Stadtkanals, treffen wir Wu Yun Qi. Er ist 26 Jahre alt, kommt aus der Provinz Hennan. Er hat ein Studium abgeschlossen, verdient aber trotzdem schlecht. Und er bekommt keine Frau: "Es ist heute in China so: Wenn Du heiraten willst, dann musst du als Mann der Frau etwas bieten können. Du brauchst eine eigene Wohnung. Doch sind die Immobilienpreise in Peking so teuer, das wir uns das nie leisten können." Und deshalb, so meint er, werden er und seine Freunde, mit denen er sich ein billiges Zimmer teilt, so schnell auch keine Freundin oder gar Frau zum Heiraten finden.

Wu Yun Qi ist einer von mindestens 25 Millionen chinesischen Männern, die heiraten möchten, aber keine Braut finden. Künftig wird jeder zehnte Mann in China Single bleiben. Das Phänomen der unfreiwilligen Junggesellen betrifft längst nicht mehr nur ungebildete Männer auf dem Land.

Derzeit kommen in China auf 100 Mädchen bei Geburt etwa 117 Buben. Ein leichter Überhang von Buben bei Geburt ist von der Natur vorgesehen. Doch hierzulande ist das Missverhältnis dramatisch. Der Grund: traditionell werden in Chinas Gesellschaft Buben bevorzugt. Aufgrund der Ein-Kind-Politik werden übermäßig viele weibliche Föten abgetrieben. Ultraschalluntersuchungen zur Bestimmung des Geschlechts sind zwar mittlerweile verboten, um diesen Trend zu durchbrechen. Doch lassen sich viele Ärzte schmieren.

Ökonomische Vorteile sind Vergangenheit

Und auch die jüngste Aufweichung der Ein-Kind-Politik wird wenig bringen. Die Behörden hoffen künftig auf zwei Millionen Geburten mehr pro Jahr. Eltern, die beide Einzelkinder sind, dürfen ab sofort zwei Kinder haben. "Wir hätten diese Politik bereits vor zehn Jahren massiv beschränken sollen. Wir sind zu spät. Je länger wir warten, desto gravierender sind die Konsequenzen“, sagt der Demograph Gu Baochang von der Renmin Universität. Der Frauenmangel werde künftig die Nachfrage nach Prostitution steigern. Der Frust und die Aggression der zurückgewiesenen Männer könnten sich in Gewalt entladen, sagt Professor Gu.

Genau davor haben Chinas Mächtige Angst. Doch ist der Widerstand gegen eine totale Aufhebung der Ein-Kind Politik nach wie vor groß. Ohne sie hätte China heute bis zu 400 Millionen Menschen mehr und möglicherweise ein Ernährungsproblem, wird argumentiert. Die Brutalität, mit der man die Zwangsmaßnahmen durchgesetzt hat, wird verschwiegen. Doch lässt es sich nicht mehr leugnen: China altert rasant, das bisher fast unerschöpfliche Angebot an billigen Arbeitskräften geht zurück und das Ungleichgewicht der Geschlechter gefährdet die soziale Stabilität. Die ökonomischen Vorteile der Ein-Kind-Politik gehören mittlerweile der Vergangenheit an.