Juli Zeh

PETER VON FELBERT

Roman

"Über Menschen" von Juli Zeh

Die deutsche Schriftstellerin Juli Zeh hat mit ihrem Roman "Unterleuten" 2016 einen Bestseller geschrieben, weitere Erfolgsromane wie "Leere Herzen" und "Neujahr" folgten. Nun erscheint ihr neuer Roman "Über Menschen". Wieder spielt die Handlung in einem Brandenburgischen Dorf, und zwar kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie.

Im ersten Lockdown 2020 zieht die 36-jährige Werbetexterin Dora aus Berlin ins kleine Brandenburgische Dorf Bracken, wo sie ein altes Haus samt verwildertem Garten kauft. Und während ihr Lebensgefährte in der Hauptstadt vom messianischen Klimaaktivisten zum gefeierten Corona-Propheten avanciert, findet Dora allmählich ihren Platz im Dorf ohne Nahversorgung und brauchbaren öffentlichen Verkehr, zwischen hilfsbereiten AfD-Wählern und ihrem im wörtlichen Sinne rechten Nachbarn.

"Angenehm", sagt Gote. "Ich bin hier der Dorf-Nazi."

In der Agentur entwickeln sie ständig solche Szenen. Junge Frau, die aufs Land gezogen ist. Leicht verunsichert von der neuen Umgebung, aber fest gewillt, alles toll zu finden. Trifft ihren neuen Nachbarn. "Angenehm, ich bin hier der Dorf-Nazi" - und freeze.

Hund liegt auf einer Landstraße (Buchcover)

Juli Zehs Roman "Über Menschen" erscheint bei Luchterhand und im Hörverlag, gelesen von Anna Schudt

Schreiben als Wagnis

Mehr Klischee geht nicht, ganz zu schweigen von der fehlenden Distanz zur Pandemie und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen. Aber es ist eben Juli Zeh, die am Steuer sitzt und das Romanvehikel gewohnt souverän durch 400 Seiten Handlung manövriert, wo andere den Karren längst an die Wand gefahren hätten.

Für Rundfunkinterviews steht Juli Zeh nicht zur Verfügung. In einem schriftlichen Interview mit dem Verlag erzählt sie: "Ich hatte die erste Fassung des Romans schon geschrieben, als sich die Pandemie über die Welt auszubreiten begann. Für mich war es ausgeschlossen, an dem Text weiterzuarbeiten, ohne darauf zu reagieren. Deshalb habe ich den Roman ein zweites Mal von Neuem geschrieben und die aktuellen Ereignisse mit einfließen lassen. Das war einerseits ein Wagnis, so nah an den täglichen Entwicklungen zu schreiben, andererseits war es aber auch spannend und für mich eine Möglichkeit, Dinge zu verarbeiten, die für uns alle schwer und belastend sind."

Raumforderungen

Der neue Nazi-Nachbar Gote schenkt Dora Küchenstühle und eine Pflanze, baut ihr ungefragt ein Bett aus Pallettenmöbeln und lädt sie zum Grillen ein, zugleich lässt er seine zehnjährige Tochter Franzi verwahrlosen und grölt mit seinen Freunden lauthals das Horst-Wessel-Lied und faselt von "völkischer Raumforderung".

Dora hat schon als kleines Mädchen gewusst, dass eine Raumforderung nicht der Wunsch nach einem eigenen Zimmer, sondern ein Tumor ist, und dass Jojos Lebensaufgabe darin besteht, solche Raumforderungen aus den Köpfen der Menschen zu schneiden. Wie alle kleinen Mädchen war sie unendlich stolz auf ihren Vater und lauschte den Berichten von wundersamen Lebensrettungen mit Begeisterung.

Sogwirkung

Wie die beiden Bedeutungen von "Raumforderung" auf tragische Weise zusammenfinden, mutet ein wenig konstruiert an, ebenso wie manche Nebenfiguren, die eher wie stereotype Platzhalter wirken. Dazwischen allerdings entwickelt das ungewohnte Gespann Gote - Franzi - Dora eine Dynamik, der man sich beim Lesen kaum entziehen kann. Vielleicht, weil das Trio auf so erfrischende Weise Konflikte aushält und aussitzt, und weil Juli Zeh darin sämtliche gesellschaftspolitische Widersprüche unserer Zeit genüsslich entfaltet und hinterfragt.

Nicht zufällig erinnert "Über Menschen" an "Unterleuten". Das titelgebende Dorf des mittlerweile verfilmten Bestsellers liege ganz in der Nähe des aktuellen Schauplatzes Bracken, sagt Zeh, die sich in der Dorfwelt sichtlich wohl und zu Hause fühlt.

Eine gelungene Mischung

"Die Stadt ist in gewisser Weise eine große Möglichkeitenmaschine - man hat immer die Möglichkeit, aber auch die Pflicht, etwas zu verändern und zu verbessern, wenn etwas stört oder nicht gut funktioniert. Neue Wohnung, neuer Job, neuer Partner, vielleicht sogar andere Freunde, eine neue Identität. Auf dem Dorf kann man nicht auf diese Weise ausweichen. Man lebt mit dem, was man vorfindet. Das stellt einen vor die Herausforderung, sich Konflikten wirklich zu stellen. Man lernt andere Menschen, aber auch sich selbst auf ganz neue Weise kennen", sagt die Juristin und Erfolgsautorin Juli Zeh, die mit ihrer Familie ebenfalls in einem Dorf in Brandenburg lebt.

Das Ankommen der linksliberalen Antiheldin im ideologischen Paralleluniversum gerät am Ende weit weniger klischeehaft als befürchtet, dafür umso aufschlussreicher. Der Roman lebt von der gelungenen Mischung aus dahingaloppierender Handlung und nachdenklichem Innehalten, vor allem aber löst er sein titelgebendes Versprechen ein: es ist tatsächlich ein Roman über Menschen in all ihren Facetten, vielschichtig, widersprüchlich und dadurch umso faszinierender und liebenswerter.

Service

Juli Zeh, "Über Menschen", Roman, Luchterhand und Hörverlag

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