Alexander Kluge

MARKUS KIRCHGESSNER

Ein Alien klopft an unsere Tür

Zwei neue Bücher von Alexander Kluge

Am 14. Februar feiert Alexander Kluge seinen 90. Geburtstag, bereits jetzt erscheinen zwei neue Bücher. Im einen geht es um Kluges lebenslange Leidenschaft für den Zirkus und im anderen spinnt er sein Gedankennetz von der Corona-Krise zurück in seine Kindheit und wie gewohnt laufen dabei Kluges analytischer Geist des studierten Juristen und die Lust des Dichters am Gedankensprung zusammen.

Er schreibe über die Dinge, die ihn wundern, sagt Alexander Kluge und zu denen gehöre der Zirkus, seit er im Alter von vier Jahren eine Vorstellung besuchte. Was sieht er, wenn er das Wort Zirkus hört? "Tiere, sehr große Helligkeiten und eine besondere Form des menschlichen Allmachtsgedankens", sagt Alexander Kluge.

Das Virus hält uns einen Spiegel vor

"Zirkus / Kommentar", heißt der Band, in dem Alexander Kluge, ausgehend von seinen Kindheitserinnerungen über Akrobatik im Alltag, die Faszination Europas für Elefanten oder über das Virus als Verwandlungskünstler nachdenkt. "Wenn so ein Lebewesen wie das Virus an unsere Tür klopft, wie ein Alien vom gleichen Planeten", sagt Alexander Kluge, "dann lernen wir auch etwas über uns. Das hält uns einen Spiegel vor."

Die Liebe zur Vertikalität

Auch das zweite Buch, Untertitel "Unruhiger Garten der Seele", ist als Kommentarband verfasst. Der Kommentar, eine literarische Form, mit der der Jurist Kluge von Studienzeiten an vertraut ist, und deren Potential er jetzt für sein lyrisches Erzählen ausreizt. "Da gibt es wenige Zeilen Gesetzestext und dreißig, vierzig, hundert Seiten Kommentar", so Kluge. "Das heißt der Kommentar ist die Form der Gründlichkeit und geht in die Vertikale, während die spannende Erzählung horizontal verläuft. Und ich liebe diese Vertikalität: Dass man bei einer Sache bleibt und sie so gründlich erforscht, wie man irgend kann."

Am 14. Februar feiert Alexander Kluge seinen 90. Geburtstag und sein Buch der Kommentare ist zweifellos sein bisher persönlichstes geworden. Darin schreibt er vom Tod seiner Schwester Alexandra, aber auch darüber, wie sie und seine Eltern in ihm weitersprechen. "Ich bin hellhöriger geworden, ich bin nicht mehr so unruhig wie vor zwanzig Jahren", erzählt Alexander Kluge. "Und wenn es ruhiger wird in mir, dann werden diese Stimmen lauter. Die Idee, dass ein Autor oder ein Ich allein ist, die ist irrig. In uns ist ein ganzer Chor und die leisen Töne werden im Alter verstärkt."

Die Notausgänge der Philosophie

Unglaublich gegenwärtig sind Kluges Erinnerungen, auch wenn sie siebzig, achtzig Jahre zurückreichen. In seine Kindheit in Halberstadt etwa und zum 30. April 1945, als der 13-Jährige miterlebte, wie 80 Prozent der Stadt bei einem Bombenangriff zerstört wurden.

"In so einer Straße, die von Bombenflugzeugen durchpflügt wird", erinnert sich Kluge, "ist es schön, wenn ein Keller mit dem anderen verbunden ist: Kenntnis der Notausgänge, ist der Anfang der Philosophie, aber auch der Anfang des Poetischen."

Walter Benjamin reloaded

Alexander Kluge folgt in seinem Schreiben der Kritischen Theorie, sein Übervater ist Walter Benjamin, der mit seinem 1929 begonnenen Passagenwerk versucht hat, eine Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts zu liefern. Als wild wuchernde Materialsammlung, in der vor allem Übersehenes und Verdrängtes in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wurde.

Ähnliches schwebt Kluge vor: "Wir müssen heute dasselbe noch einmal wiederholen. Denn wenn wir das 20. Jahrhundert nicht verstanden haben, werden wir das 21. auch nicht bewältigen."

Abenteuerliche Fluchtwege

Begriffe breitet Alexander Kluge wie Landkarten aus, Zitate verwendet er als Bausteine, ein großer Sammler ist Kluge, der seine Fundstücke zu neuen Metaphern und neuen Assoziationen zusammenzusetzen weiß. Wer derzeit an den Sackgassen des Denkens verzweifelt, für den halten Alexander Kluges Kommentarbände wunderbare abenteuerliche Fluchtwege bereit. Vom Ende der Geschichte kann nach der Lektüre jedenfalls keine Rede mehr sein.

Service

Alexander Kluge
Alexander Kluge, "Das Buch der Kommentare - Unruhiger Garten der Seele", Suhrkamp
Alexander Kluge, "Zirkus / Kommentar", Suhrkamp

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