Mutter Teresa

5. September 2022, 06:56

Es war gegen Mitternacht, eine warme südindische Nacht in Chennai. Ich warte auf Mutter Teresa, die berühmte Ordensfrau aus Albanien, die seit einem halben Jahrhundert in Indien lebt. Sie hätte schon längst da sein sollen.

Es war Herbst 1990, in der indischen Megacity Mumbai brannten die Slums. Ein Mob, angefeuert von hindunationalistischen Politikern, hatte im Norden Indiens in Ayodhya eine alte Moschee zerstört, weil darunter ein noch älterer Hindutempel vermutet wurde, und ich wollte Mutter Teresa danach befragen. Der Konvent der Kleinen Schwestern in Chennai lag im Hafenviertel. Vor der Türe wachte ein baumlanger Polizist, bewaffnet mit einem Stock, den er auch zu benützen wusste.

Schließlich kommt Mutter Teresa. Eine sehr kleine, sehr alte, sehr energische Frau im typischen Ordensgewand, einem weißen Sari mit blauem Rand. Sie tritt in den kleinen Hof des Konvents und es ist plötzlich still. Der baumlange Polizist hat sich vor ihr zu Boden geworfen und ihre Füße berührt, ein Zeichen der Verehrung einer lebenden Heiligen. Sie hat es reaktionslos zur Kenntnis genommen und ihm segnend die Hand auf den Kopf gelegt.

Ich habe sie dann nach den Kämpfen zwischen Muslimen und Hindus in den Slums von Mumbai gefragt. "Betet", sagte Mutter Teresa. "Betet." Ja, und im Übrigen würden sie Lebensmittel, Kleider und Geld sammeln. Dann verschwindet sie hinter der Türe des Konvents. Ich hatte das Gefühl, einer Person begegnet zu sein, deren Wille in der Lage ist, Berge von einem Ort zum anderen zu bewegen: Mutter Teresa.

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• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler