Trotz fulminantem Wahlsieg

Erdogan braucht Partner

Die Türkei steht nach dem Wahlsieg von Ministerpräsident Erdogan vor schweren Entscheidungen in Bezug auf die Verfassung und die Justiz. Dabei muss der wiedergewählte Ministerpräsident nun mit der Opposition kooperieren, nachdem er die Zweidrittel-Mehrheit verpasst hat.

Morgenjournal, 14.06.2011

Festhalten an Verfassungsänderung

Wie es sich anfühlt, wenn man große Teile der Bevölkerung hinter sich hat, das weiß der türkische Regierungschef Recep Tayip Erdogan. Er und seine Partei AKP haben bei der Wahl am Sonntag in der Türkei zum dritten Mal hintereinander die Mehrheit erreicht; und noch nie ist sie so deutlich ausgefallen wie diesmal. Fast die Hälfte der Stimmen bedeutet im Parlament die absolute Mehrheit. Das ganz große Ziel hat Erdogan aber verfehlt: Er wollte eine Zweidrittel-Mehrheit; damit hätte er die Verfassung ändern und sie in seinem Sinn umbauen können. Dafür ist er jetzt auf Partner angewiesen: Am Plan, die Verfassung zu erneuern, will er aber festhalten.

Bestehende Verfassung aus Militärdiktatur

Dass die Türkei rasch eine neue Verfassung braucht, darin sind sich alle Parteien, Interessensverbände und Bürgerrechtsgruppen einig. Die geltende Verfassung stammt von der letzten Militärdiktatur und wurde immer nur stückweise verändert.

Doch wie der neue, moderne Gesetzesrahmen für die Türkei konkret aussehen soll, darüber wird in den nächsten Monaten heftig gestritten werden. Es solle eine Verfassung für Türken, Kurden, Aleviten, für alle Minderheiten und für jeden einzelnen Bürger werden, rief Erdogan in der Wahlnacht. Was er dabei nicht erwähnt hat. An der Spitze des Staates soll nach seinen Vorstellungen ein nahezu allmächtiger Präsident stehen – eine Rolle, in der sich Erdogan nach dem Ende der neuen Regierungsperiode gerne sehen würde.

Verhandlungspartner stellen Forderungen

Doch um das durchzuziehen, hätte er zwei Drittel der Abgeordneten gebraucht. Das war aber sogar für ihn außer Reichweite. Jetzt muss er mit anderen Parteien verhandeln.

Ich habe Erdogan zu seinem Wahlsieg gratuliert, sagt Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu, und ihn zugleich darauf aufmerksam gemacht, dass auch unsere Partei stärker geworden ist. Die sozialdemokratische CHP hat zwar zugelegt, ihr Wahlziel von 30 Prozent aber ebenso knapp verfehlt. An einer moderneren, demokratischeren Verfassung will Kilicdaroglu mitarbeiten. Ein Präsidialsystem, wie von Erdogan vorgeschlagen, lehnt er allerdings ab.

Konsensfähigkeit gefragt

Der wiedergewählte Regierungschef müsse jetzt eine Eigenschaft an den Tag legen, die man bisher bei ihm nicht kennt, meint der Politologe Cengiz Aktar.

Sowohl die neue Verfassung als auch die Lösung des Kurdenproblems verlangen die Fähigkeit zum Konsens. Erdogan muss erst beweisen, dass er sowohl mit anderen Parteien, als auch mit der gesamten Gesellschaft einen Konsens finden kann.

Kurden verlangen Selbstbestimmung

Besonders die Kurden werden für Erdogan ein schwieriger Partner. Die kurdische Partei konnte die Zahl ihrer Parlamentssitze verdoppeln und verlangt weitgehende Selbstbestimmung für die Regionen. Unter ihren Abgeordneten sind legendäre Persönlichkeiten wie Leyla Zana, die wegen ihres politischen Engagements für die kurdische Autonomie zehn Jahre im Gefängnis verbracht hat.

Vor 20 Jahren war Leyla Zana schon einmal ins türkische Parlament gewählt worden. Doch weil sie es wagte, bei ihrer Vereidigung einen Satz auf kurdisch zu sagen, brach sofort ein Tumult aus. Und wenige Jahre später wurde Zana zusammen mit ihren Parteikollegen im Parlament verhaftet. Seither sind, wie gesagt, 20 Jahre vergangen. Und in der Türkei verändert sich nicht nur die Wirtschaft schneller als anderswo, sondern in letzter Zeit auch die Politik.

Vier Sitze fehlen

Der türkische Premierminister Recep Tayip Erdogan hat sich am Wochenende als großer Wahlsieger feiern lassen - aber der Traum vom Triumph, demokratisch gewählt seine dritte Amtszeit krönen zu können, dieser Traum blieb doch unerfüllt: keine Zwei-Drittelmehrheit, sondern "nur" die absolute Mehrheit. Vier Abgeordnetensitze im Parlament fehlen zur Zweidrittel-Mehrheit, mit der Erdogan seine geplante Verfassungsreform ganz einfach mit den Stimmen seiner Partei, der AKP, hätte durchziehen können.

Mittagsjournal, 14.06.2011

Christian Schüller, ORF Istanbul, im Gespräch mit