Friedericke Mayröcker

APA/HERBERT NEUBAUER

Inspiration Hölderlin

Friedrike Mayröcker über Lyrik

"Ein Gedicht ist für mich, wenn alles stimmt, wenn man das liest und sagt ja, wenn es also die Wahrheit der Sprache enthält." "Die Wahrheit" ist für die Schriftstellerin Friederike Mayröcker keine Frage von richtig oder falsch. Die "Wahrheit der Sprache", die sie meint, steht über diesen Kategorien, und: Man findet sie, so Mayröcker, am eindringlichsten und am gültigsten bei Friedrich Hölderlin.

Die Gedichte des deutschen Lyrikers befinden sich inmitten einer unüberschaubaren Zettellandschaft in Friederike Mayröckers Wohnung in Wien Margareten. Stets griffbereit liegt dort ein vielbenutztes Bändchen mit den gesammelten lyrischen Werken Hölderlins - oder jedenfalls fast griffbereit.

"Hälfte des Lebens" heißt Hölderlins Anfang des 19. Jahrhunderts verfasstes berühmtes Gedicht. Friederike Mayröcker hat es unter ihre "25 Lieblingsgedichte" gereiht und im gleichnamigen Lyrik-Band veröffentlicht, der vom Styria Verlag als Auftakt für eine umfangreiche Reihe in Kooperation mit Ö1 vorgestellt wurde.

Zwiegespräche mit Hölderlin

Marie Therese Kerschbaumer, Ilse Aichinger und Peter Handke hat Mayröcker unter anderen noch auf ihre Favoriten-Liste gesetzt; Hölderlin jedoch behauptet dabei seine Sonderstellung: Er, so Mayröcker, sei der Dichter, der sie am stärksten geprägt habe und der auch immer wieder in ihre eigenen Werke einfließe. So veröffentlichte die Schriftstellerin etwa vor drei Jahren den Gedichtband "Scardanelli", in dem sie intime Zwiegespräche mit dem verehrten Meister führt. Beim Lesen der Verse Hölderlins erfasse sie jedes Mal tiefe Betroffenheit, erzählt Friederike Mayröcker. Das Gedicht "Hälfte des Lebens" sei für sie Dichtkunst in ihrer reinsten Form.

"Verhörgedichte", "Verlesgedichte" oder "Traumgedichte" heißen die Kategorien, in die Friederike Mayröcker ihre eigenen lyrischen Arbeiten einteilt. Ein Verhörgedicht entsteht so: Die Dichterin schnappt auf der Straße zufällig das Gespräch zweier Passanten auf, und notiert sodann die an ihr Ohr gedrungenen "Verhörer" - Wortfetzen oder Fragmente des Dialogs. Irgendwann, wenn die Zeit reif ist, entsteht dann auf der Grundlage dieser Bruchstücke ein Gedicht. Dasselbe gilt für ein im Vorbeigehen erhaschtes Wort aus einer Zeitung, eines ins Auge stechenden Werbespruchs oder ähnlichem. Und dann gibt es die Traumgedichte, diese sind, so Mayröcker, "magisch": sie kommen nachts als Sätze, die sie sofort auf einen griffbereiten Zettel aufschreibt.

Eine Welt der Worte

Am liebsten hat Friederike Mayröcker Worte vor Augen, sie muss sie erst aufschreiben, damit sie im Gedächtnis bleiben. Das Auge spielt beim Verfassen ihrer Gedichte überhaupt die größte Rolle, erklärt die Dichterin. Lyrik muss übrigens gar nicht unbedingt in Versform verfasst sein, sagt Friederike Mayröcker. Es existiert ein geheimnisvoller Zauber, der ein Gedicht ausmacht, auch wenn es gar nicht in Versen daherkommt. Der magische Moment, jener Augenblick, der bewirkt, dass Lyrik jedes Mal aufs Neue ergriffen macht, sei ein poetischer Glücksfall, dem etwas Göttliches innewohnt, schwört Friederike Mayröcker.

In Friederike Mayröckers Wohnung lagern meterhohe Zettelberge, dazwischen sind keinerlei Haushaltsgeräte auszumachen, es scheint, als ob sie ausschließlich in einer Welt der Worte und von Worten lebte; an einer Wand hängt ein Kalender aus dem Jahr 2000, so als sollte die Zeit in jenem Jahr angehalten werden. Im Jahr 2000 starb Mayröckers lebenslanger Gefährte Ernst Jandl. Seine innige Zuneigung zu Friederike Mayröcker drückte Ernst Jandl auf seine Weise aus: in Form von kleinen Gedichten, die er ihr widmete.

Für Friederike Mayröcker ist Leben gleich Schreiben. Von Schwermut belastete Gedanken befreit sie, indem sie sie niederschreibt. Und wenn Friederike Mayröcker ein Gedicht vollendet hat? Wenn das endgültig letzte Wort geschrieben ist? "Dann ist man nachher glücklich", sagt sie, "aber nicht lange, einen halben Tag."